Vita Nuova
plötzlich weg, und der Manager hat seinen Platz eingenommen. Ich wollte singen, aber sie wollten nur Tänzerinnen. Das nächste Mal habe ich für Papà gesungen.«
»War das, als er plötzlich krank geworden ist?«
»Ja. Ich hatte rotes Haar und falsche Wimpern. Es sollte eine Überraschung für ihn sein, er würde mich schon erkennen, wenn er mich erst einmal singen hörte.«
»Die Überraschung ist Ihnen gelungen.«
»Aber er hat einfach nur dagesessen!«
»Weil er krank war.«
»Kann schon sein. Er war stinkwütend auf mich, dabei war es wirklich nicht meine Schuld. Meine Stimme ist für klassische Musik ausgebildet. Sie haben mich ausgelacht. Und dieses Mal haben sie mich auch ausgelacht, aber nur wegen der doofen Perücke.«
»Ja, das glaube ich auch.«
»Ich habe wunderschöne Brüste. Nicht wie Daniela. Die war viel zu fett, und als sie zehn war, da war sie viel zu dürr, dürr und hässlich.«
»Haben Sie oft mit Daniela gestritten?«
»Wie denn? Sie war größer als ich.«
»Natürlich. Zwei Jahre machen einen Riesenunterschied. Aber ich möchte wetten, dass Sie ihr gelegentlich heimlich eins ausgewischt haben, oder?«
Sie trocknete das feuchte Gesicht mit dem Taschentuch ab, aber die Tränen liefen unaufhörlich weiter.
»Nur ein einziges Mal.«
»Was haben Sie gemacht?«
»Sie hatte so eine armselige Stoffpuppe, die sie aus dem Waisenhaus mitgebracht hatte, hat sie nie aus der Hand gelassen, aber ich habe sie mir geholt, als sie geschlafen hat.«
»Was haben Sie mit ihr gemacht?«
»Ich habe sie ertränkt. Es war so ein blödes, billiges Ding, dass die Farben ausgelaufen sind, und als Mamma sie rausgeholt hat, hatte sie kein Gesicht mehr. Nicht hier in dem großen Pool. Der in dem anderen Haus war kleiner. Papà hat mir dort das Schwimmen beigebracht.«
»Ja, ich erinnere mich, dass Sie das erzählt haben. Sind Sie bestraft worden für das, was Sie getan haben?«
»Er hat mich geschlagen.«
»Gestern, als Sie Piero fast ertränkt haben, hat er Sie aber nicht geschlagen.«
»Weil so viele Leute da waren. Sonst hätte er Frida geschlagen.«
»Frida? Warum?«
»Weil sie aufpassen soll, wenn Papà nicht da ist. Nur weil ich Piero hin und wieder mal ein bisschen hänsle. Ich zieh ihn durch das Wasser und zieh und zieh, und dann, wenn wir auf der tiefen Seite angekommen sind, lass ich los und warte, warte bis zum letzten Moment, bevor ich ihn wieder rausziehe. Das ist nur Spaß, so lernt er schwimmen.«
»Haben Sie das Schwimmen auch so gelernt?«
»Nein. Papà macht nie Spaß. Er wird schrecklich wütend, wenn man etwas nicht richtig macht.«
»Was hat er Ihnen außerdem noch beigebracht?«
»Das Schießen im Schießstand. Daniela kann nicht schießen, darum nimmt er immer nur mich mit.«
»Das ist also etwas, was nur Sie beide zusammen machen. Wie schön.«
»Manchmal kommt Fulvio mit. Ich will, dass Papà mich anschließend wieder in ein Restaurant ausführt, nur wir beide. Früher, als ich klein war, hat er das öfter gemacht, aber das war, bevor sie gekommen ist. Jetzt will er immer gleich zurück, will mittagessen mit Daniela und Piero.«
»Aber das Abendessen nehmen Sie alle zusammen ein, nicht wahr? Ist Fulvio auch manchmal dabei? Ich nehme an, Sie wissen, wann er Rufbereitschaft hat, nicht wahr?«
Statt ihm zu antworten, putzte sie sich angelegentlich die Nase. Die Tränen liefen ihr noch immer die Wangen hinunter, tropften ihr vom Kinn hinunter auf die Brust. Das T-Shirt war schon ganz nass. Sie war verrückt, aber nicht so verrückt, die sorgfältige Planung ihres Verbrechens zuzugeben. Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm. Dieser Fall würde wohl niemals vor ein Gericht kommen, insofern würde er seine Theorie nie unter Beweis stellen müssen. Er ging davon aus, dass sie das Kind ins Auto gesetzt hatte und dann wieder hochgegangen war, um ihre Schwester zu erschießen. Anschließend hat sie Piero in den Ferienhort gebracht. Fulvio hatte Rufbereitschaft, der lärmende Bagger hatte die Schüsse übertönt, und der Mann im Garten gegenüber würde ihre Panik und Verzweiflung bezeugen, wenn sie die Tote später entdeckte – aber ausgerechnet an jenem Morgen war seine Frau im Garten und machte ihr einen Strich durch die sorgfältige Planung. Doch das änderte nichts an den Tatsachen, weder an ihrem Geisteszustand noch an den tragischen Familienverhältnissen.
»Wie alt war Daniela, als sie in den Turm gezogen ist, wissen Sie das noch?«
»Achtzehn.«
Natürlich, das
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