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Vittorio

Vittorio

Titel: Vittorio Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Rice
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berührten den Marmorboden nicht einmal. In der ganzen Kapelle wandten sich die Köpfe der Gemeinde mir zu, jedoch nur so weit, dass sie den Fürsten nicht aus den Augen verloren.
    Vor dem Taufbecken wuschen sie mir das Gesicht. Ich warf den Kopf hin und her, verrenkte mir fast den Hals und schüttelte die Wassertropfen unverschämterweise auf die, die mich reinigen wollten. Die Messgehilfen schienen sich vor mir zu fürchten. Nur zögernd traten sie näher, um nach meinen Spangen und Schnallen zu greifen.
    »Entkleidet ihn«, befahl der Fürst, wobei er die Nägel abermals vor mir in die Höhe hielt.
    »Ich sehe es nur zu gut, mein feiger Herr«, sagte ich.
    »Was bedeutet es schon, einen Jungen wie mich zu kreuzigen. Rettet besser Eure Seele, Herr, das solltet Ihr tun! Und Euer gesamter Hofstaat wird staunen ...«
    Erneut brandete von der Empore Musik auf. Wieder fiel der Chor ein, antwortete und unterstrich die Gesänge der Tenöre.
    Für mich gab es jedoch keine Worte mehr; nur Kerzenschein und das Wissen, dass man mir gleich die Kleider ausziehen und das Schreckliche stattfinden würde, diese sündige, verdrehte Kreuzigung, die nie vom heiligen Pe-trus gesegnet worden war, denn das umgekehrte Kreuz war nicht erst seit heute ein Symbol für den Bösen.
    Jäh zogen sich die bebenden Hände der Messgehilfen zurück. Oben auf der Empore spielten die Hörner ihre er-greifendsten Melodien. Die Tenöre schmetterten mit makelloser Stimme ihre Frage in den Saal:
    »Kann dieser hier nicht errettet werden? Kann dieser hier nicht erlöst werden?«
    Und dann rauschte der Chor in einstimmigem Jubel auf:
    »Kann dieser hier nicht erlöst werden aus der Macht Satans?«
    Ursula trat vor, löste den bodenlangen roten Schleier von ihrem Haupt und schleuderte ihn von sich, so dass er wie eine rote Wolke um ihre Füße niedersank. An ihrer Seite erschien ein Gehilfe mit einem Schwert - meinem Schwert! - und meinen Dolchen!
    Wider erhoben die Tenöre ihre flehenden Stimmen:
    »Eine Seele, dem Wahnsinn verfallen, wird in die Welt entlassen, und nur den geduldigsten Ohren kann sie Zeugnis von der Macht Satans geben.«
    Der Chor sang, ein Durcheinander an Melodien brach aus ihm hervor, als wäre sein Lied von einer unerwarte-ten Zustimmung überrascht worden.
    »Was, nicht sterben?«, sagte ich. Ich versuchte dem Fürsten ins Gesicht zu sehen, da diese Sache in seiner Hand lag. Doch mein Blick auf ihn war verstellt; Godric, der Alte, hatte sich zwischen uns gestellt. Nachdem er das Tor des Altargitters mit dem Knie aufgestoßen hatte, ging er den Mittelgang entlang auf mich zu. Er drückte mir einen der goldenen Kelche an die Lippen.
    »Trink, Vittorio, damit du vergisst, sonst werden wir Ursula verlieren - ihr Herz und ihre Seele.«
    »Oh, dann muss es so sein!«
    »Nein!«, schrie sie. »Nein!«
    Über seine Schulter hinweg sah ich, wie sie Florian drei der Nägel entriss und sie auf den Marmorboden schleuderte. Die Gesänge hallten hoch und kräftig unter den Bögen des Kirchenschiffes, so dass ich die Nägel nicht auf dem Stein aufschlagen hörte.
    Die Chorstimmen erhoben sich zu feierlichen Jubelge-sängen. Von dem trauervollen Tönen des Requiems war nichts mehr zu hören.
    »Nein, mein Gott, wenn Du willst, dass ihre Seele gerettet wird, dann häng mich ans Kreuz, nimm mich!«
    Doch der goldene Kelch wurde mir an die Lippen gepresst, Ursula selbst drückte mir die Kiefer auseinander, und die Flüssigkeit ergoss sich in meine Kehle. Bevor ich die Augen schloss, sah ich, wie jemand mein Schwert hob, als höbe er ein Kreuz - da, das lange Heft, der Griff quer dazu.
    Leises, spöttisches Gelächter klang auf und mischte sich mit der zauberischen, unbeschreiblichen Schönheit des Chorgesangs.
    Ursulas Schleier wirbelte auf, der rote Stoff hob sich vor meinen Augen und sank auf mich nieder wie ein magischer Regen, getränkt mit ihrem Duft, weich wie ihre Zärtlichkeit.
    »Ursula, geh mit mir ...«, hauchte ich.
    Das waren meine letzten Worte.
    »Ausgestoßen!«, rief ein anschwellendes Stimmengewirr.
    »Ausgestoßen ...«, klang es von dem riesigen Chor, und der Hofstaat schien mit einzustimmen: »Ausgestoßen
    ...«, dann schlossen sich meine Augen endgültig, während der rote Schleier mein Gesicht einhüllte und sich wie Hexengespinst über meine sich sträubenden Finger legte und meinen offenen Mund verschloss.
    Hörnerklang trompetete die Wahrheit heraus. »Vergeben!
    Ausgestoßen!«, so sangen die Stimmen.
    »Ausgestoßen und dem

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