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Vittorio

Vittorio

Titel: Vittorio Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Rice
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durch-nässt, und zweifellos alles meinetwegen. Ich hatte nicht aus dem Regen heraus unter ein schützendes Dach gewollt. Ganz unvernünftig. Sie hatten mich gefunden, als ich im strömenden Regen mitten auf der Piazza della Si-gnoria gelegen hatte.
    »Er kommt zu sich, er spricht klarer.«
    Ich sah den Eingang zu Fra' Filippos Werkstatt direkt vor mir. Die Läden waren herabgelassen. Nun, da das Gewitter nachgelassen hatte, begann man sie wieder zu öffnen; das Wasser trocknete schon auf dem Straßenpflaster. Die Leute begaben sich wieder ins Freie.
    »He, ihr Männer da drinnen!«, rief ich.
    »Was? Was sagt Ihr da?«
    Ringsum nur Schulterzucken, aber sie wollten mir helfen.
    Ein alter Mann stützte mich am Ellenbogen.
    »Wir sollten ihn ins Kloster San Marco bringen, sollen sich die Mönche um ihn kümmern.«
    »Nein, nein, nein, ich muss mit Cosimo sprechen!«, rief ich. Wieder zuckten sie die Schultern und schüttelten die Köpfe.
    Unvermittelt blieb ich stehen. Ich schwankte hin und her und suchte festen Stand, indem ich grob nach der Schulter eines der jüngeren Männer griff. Ich schaute und schaute und konnte den Blick nicht von der Werkstatt wenden. Die Straße war hier kaum mehr als eine Gasse, kaum breit genug, um Reiter durchzulassen, ohne dass sie einen Fußgänger verletzten, und die steinernen Häu-serfassaden standen so dicht, dass sie den schiefergrau-en Himmel über uns fast gänzlich ausschlossen. Fenster öffneten sich, und es schien, als könnte eine Frau in einem der oberen Stockwerke mit der Hand das Haus auf der gegenüberliegenden Seite berühren.
    Aber schaut, was da unmittelbar vor der Werkstatt war?
    Ich sah sie. Ich sah zwei von ihnen! »Schaut!«, sagte ich abermals. »Seht ihr sie auch?«
    Die Männer sahen nichts. Mein Gott, die beiden Gestalten mit der rosigen Haut und den lose gegürteten Ge-wändern, die vor der Werkstatt standen, strahlten, als käme das Licht aus ihrem Innern.
    Die Satteltasche über meiner Schulter hielt ich immer noch fest, aber eine Hand legte ich an mein Schwert, ich konnte aufrecht stehen, aber meine Augen müssen groß wie Untertassen gewesen sein, als ich, blind für alles andere, beobachtete, was ich vor der Werksatt sah.
    Da stritten sich gerade zwei Engel! Zwei Engel, deren Schwingen kaum merklich im Takt mit ihren Worten und Gesten mitschwangen, diskutierten miteinander, dort, direkt vor der Werkstatt.
    Sie standen da, ohne die Menschen wahrzunehmen, die an ihnen vorbeigingen und sie nicht sehen konnten, und sie stritten sich, die beiden Engel, beide blond, beides Engel, die mir bekannt waren. Ich erkannte sie! Ich kannte sie aus den Gemälden des Fra' Filippo, und ich konnte ihre Stimmen vernehmen. Den einen erkannte ich an den Locken, die sich wie Kränze um sein Haupt zogen, ge-krönt von einem weiteren Kranz aus wunderbar dazu passenden Blümchen, außerdem an dem weiten karmin-roten Mantel und dem klaren himmelblauen Untergewand mit der goldenen Borte.
    Und den anderen, den erkannte ich ebenfalls, sein blo-
    ßes Haupt und das weiche, etwas kürzere Haar, den goldenen Kragen und die Insignien auf seinem Umhang, dazu die breiten Zierbänder an seinen Handgelenken.
    Aber vor allen Dingen erkannte ich ihre Gesichter, die unschuldsvollen, rosig getönten Gesichter, ihre ruhevol-len, großen, aber mandelförmigen Augen.
    Das Licht, das immer noch düster und stürmisch war, zerfloss langsam, obwohl die Sonne hinter den grauen Wolken brannte. Meine Augen begannen zu tränen.
    »Seht nur ihre Schwingen«, flüsterte ich. Doch die Männer konnten nichts sehen.
    »Ich kenne die Flügel. Ich kenne diese beiden. Da, der Engel mit dem blonden Haar, mit der Haartracht aus lauter Lockenkränzen, es ist der aus der Verkündigung, und seine Schwingen, die sind wie Pfauenfedern, strahlend blau, und der andere, dessen Federn sind wie in reinsten Goldstaub getaucht.«
    Der Engel mit der Blumenkrone gestikulierte aufgeregt; bei einem Menschen hätten die Gesten und die ganze Haltung Ärger ausgedrückt, doch hier ging es bei weitem nicht so hitzig zu. Der Engel bemühte sich nur darum, seinen Standpunkt verständlich zu machen.
    Ich rührte mich langsam, löste mich von dem freundlichen Helfer, der nicht sehen konnte, was ich sah!
    Was glaubten sie wohl, worauf ich so fasziniert starrte?
    Auf die Werkstatt mit ihrer klaffenden Tür, die Lehrlinge in dem dunklen Innenraum, die Fitzelchen von halb fertigen bemalten Leinwänden und Paneelen, den gähnenden Schlund,

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