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Vittorio

Vittorio

Titel: Vittorio Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Rice
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hinter dem die Arbeit fortging?
    Der andere Engel schüttelte ernst den Kopf. »Ich stimme dem nicht zu«, sagte er mit ruhiger, singender Stimme.
    »So weit können wir nicht gehen! Glaubst du denn, das macht mich nicht auch traurig?«
    »Was?«, rief ich. »Was macht dich traurig?«
    Beide Engel wandten sich um. Sie betrachteten mich.
    Gleichzeitig legten sie die dunklen, in allen Farben schimmernden Schwingen dicht um sich, als wollten sie sich dadurch unsichtbar machen, aber ich sah sie trotzdem, sie glänzten, und beide waren so licht, so unver-kennbar. Ihre Augen blickten verwundert, als sie mich ansahen. Waren sie über meinen Anblick erstaunt?
    »Gabriel!«, rief ich laut und zeigte auf ihn. »Ich kenne dich, ich kenne dich aus der Verkündigung. Ihr seid beide Gabriel, ich kenne die Gemälde. Gabriel und Gabriel, wie kann das sein?«
    »Er kann uns sehen«, sagte der Engel, der vorher so eifrig gestikuliert hatte. Seine Stimme war gedämpft, aber ihr sanfter Klang schien mühelos bis an mein Ohr zu dringen. »Er kann uns hören«, sagte der andere, und das Staunen in seinem Gesicht wurde noch intensiver. Aber vor allem wirkte er unschuldsvoll und geduldig und von freundlichstem Mitgefühl bewegt.
    »Was, im Namen Gottes, sagst du da, Junge?«, fragte der alte Mann neben mir. »Nun nimm aber deinen Verstand zusammen. Du trägst ein Vermögen in deinen Taschen herum. Deine Hände sind mit Ringen bedeckt.
    Nun rede vernünftig. Ich werde dich zu deiner Familie bringen, wenn du mir nur endlich sagst, wo ich sie finden kann.«
    Ich lächelte, ich nickte, aber ich hielt meine Augen fest auf die zwei erschrockenen, staunenden Engel gerichtet.

    Ihre Gewänder wirkten fein, beinahe durchscheinend, als wäre das Gewebe genauso wenig irdisch wie ihre hell leuchtende Haut. Ihre ganze Aufmachung war durchlässig, wie von Licht durchwoben.
    Wesen der Luft, voller Entschlossenheit, aus dem Jetzt und ihrem Tun entstanden - fielen mir da die Worte des Thomas von Aquin aus seiner Summa Theologiae ein, anhand derer ich Latein gelernt hatte?
    Oh, wie wundersam schön sie doch waren, diese Engel, und so sicher abgetrennt von ihrer gesamten Umgebung, wie sie da gebannt in stiller, staunender Schlichtheit in der Gasse standen und mich grübelnd, voller Mitgefühl und Interesse betrachteten.
    Einer der beiden trat vor, es war der mit dem Blumen-kranz, der mit den himmelblauen Ärmeln, der, dem mein Herz zugeflogen war, kaum dass ich ihn auf der Verkündigung erblickt hatte, damals mit meinem Vater. Im Nä-
    herkommen wurde er breiter und größer, nur wenig grö-
    ßer und raumfüllender als ein normaler Mensch, und wie er sich da in seinen weiten, anmutig schwingenden Ge-wändern herbewegte, strahlte er eine solche Liebe aus und wirkte so unkörperlich und doch so übermächtig fassbar, dass er der vollkommene Ausdruck von Gottes Schöpfung zu sein schien, vollkommener, als ein Wesen aus Fleisch und Blut sein könnte.
    Er schüttelte den Kopf und lächelte. »Nein, das nicht, denn du bist ja selbst die edelste unter Gottes Schöpfungen«, sagte er mit leiser Stimme, die sich ihren Weg durch das Geplapper ringsum erst bahnen musste. Er bewegte sich wie ein menschliches Wesen, doch seine Füße blieben auf dem nassen, schmutzigen Pflaster der florentinischen Straßen ganz rein. Die Männer, die ihn sowieso nicht sehen konnten, nahm er gar nicht wahr, als er nun dicht vor mir stand und seine Flügel spreizte und wieder eng schloss, so dass ich nur die gefiederten Bö-
    gen über seinen jugendlich geformten Schultern aufragen sah. Sein Gesicht war glänzend rein und genauso leuchtend rosig getönt, wie es von Fra' Filippo gemalt worden war. Als er lächelte, begann ich vor reiner Wonne am ganzen Körper heftig zu beben.
    »Bin ich wahnsinnig, Erzengel?«, fragte ich. »Hat ihr Fluch sich bewahrheitet, und habe ich diese Erscheinung, während ich hier lallend stehe und den Spott gebildeter Männer auf mich ziehe?« Ich lachte laut auf.
    Ich erschreckte die werten Herren, die währenddessen versucht hatten, mir zu helfen. Sie waren ziemlich verstört. »Was? Was redet er da wieder?«
    Aber in einem einzigen glanzvollen Augenblick kam mir eine Erinnerung und erhellte mir mit einem Schlag Herz, Seele und Verstand gleichermaßen, als wenn die Sonne plötzlich eine finstere Zelle mit ihren Strahlen überflutet hätte. »Du warst das, dich habe ich gesehen, dort in dem Wiesengrund, als sie mein Blut trank.«
    Er sah mir in die Augen, dieser

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