Vittorio
kühle, gefasste Engel mit seinen makellosen Lockenreihen und den glatten, ruhe-vollen Wangen.
»Gabriel, der Erzengel«, sagte ich ehrfürchtig. Tränen rannen mir aus den Augen, und ich schwankte zwischen Lachen und Weinen.
»Mein Junge, mein armer, elender Junge«, sagte der alte Kaufmann. »Hier steht kein Engel vor dir. Nun hör doch einmal zu, bitte.«
»Sie können uns nicht sehen«, vertraute mir der Engel an. Wieder lächelte er dieses weiche, unbeschwerte Lä-
cheln. In seinen Augen fing sich das Licht des aufhellen-den Himmels, während er in mich, in meine Augen sah, als erlangte er mit jedem suchenden Blick eine tiefere Einsicht.
»Ich weiß«, antwortete ich. »Sie haben keine Ahnung!«
»Aber ich bin nicht Gabriel, du darfst mich nicht so nennen«, sagte er sehr höflich und beruhigend. »Mein Junge, ich bin bestimmt nicht der Erzengel Gabriel. Ich bin Setheus, und ich bin nur ein Schutzengel.«
Er war so duldsam, nahm mein Weinen so geduldig hin, wie er die um uns versammelten Männer hinnahm, die ihm gegenüber so blind und meinetwegen so betroffen waren.
Er stand so dicht bei mir, dass ich ihn hätte berühren können, aber ich wagte es nicht.
»Mein Schutzengel?«, fragte ich. »Ist das wahr?«
»Nein«, antwortete er, »nicht dein Schutzengel. Die musst du dir selbst suchen. Du siehst hier die Schutzengel eines anderen, wenn ich auch nicht weiß, wieso und warum du uns siehst.«
»Nun hör auf zu beten«, sagte der alte Mann neben mir gereizt. »Sag uns lieber, wer du bist, Junge. Du hast vor-hin schon einen Namen genannt - wer ist dein Vater, sag!«
Der andere Engel, der stehen geblieben war, als wäre er zu verblüfft, um sich zu rühren, gab plötzlich seine Zu-rückhaltung auf und trat wie der andere zuvor auf mich zu, barfuß, schweigend und ebenso unberührt von Nässe und Schmutz und grobem steinernem Untergrund.
»Kann daraus Gutes entspringen, Setheus?«, fragte er.
Aber seine hellen, irisierenden Augen sahen mich mit der gleichen liebevollen Aufmerksamkeit an, mit dem gleichen hingerissenen, verzeihenden Interesse.
»Und du«, sprach ich ihn an, »du bist auf dem anderen Gemälde abgebildet. Auch dich erkenne ich, ich liebe dich aus tiefstem Herzen.«
»Sohn, zu wem sprichst du da?«, fragte der jüngere Mann. »Wen liebst du aus tiefstem Herzen?«
»Ah, könnt ihr endlich hören, was ich sage?« Ich drehte mich zu dem Mann um. »Ihr könnt mich verstehen!«
»Ja, und nun sag uns, wie du heißt.«
»Vittorio di Raniari«, erklärte ich, »Freund und Verbündeter der Medici, Sohn des Lorenzo di Raniari, von der Festung Raniari in der nördlichen Toskana, und mein Vater ist tot und alle meine Verwandten. Aber ...«
Die beiden Engel standen unmittelbar vor mir nebeneinander, die Häupter einander zugeneigt, während sie mich betrachteten, und es schien, als ob die Sterblichen in ihrer ganzen Blindheit den Engeln doch nicht die Sicht ver-stellen könnten oder sich zwischen sie und mich drängen könnten. Wenn ich doch nur den Mut aufbringen würde.
Ich hätte sie zu gerne berührt. Die Flügel desjenigen, der zuerst gesprochen hatte, hoben sich nun, und es kam mir so vor, als fiele glitzernder Goldstaub von den sich rührenden Federn, diesen bebenden, funkelnden Federn, aber das war nichts gegen die versonnene, erstaunte Miene des Engels.
»Lass dich von denen da ins Kloster San Marco bringen«, sagte der Engel, der Setheus hieß, »lass dir helfen.
Diese Männer meinen es gut; man wird dir bei den Mönchen eine Zelle geben, sie werden sich um dich kümmern. Du könntest nicht besser untergebracht sein, denn das Kloster steht unter Cosimos Schirmherrschaft, und du weißt doch, dass Fra' Giovanni die Zellen dort mit eigener Hand ausgeschmückt hat, auch die, in der man dich unterbringen wird.«
»Setheus, das weiß er«, sagte der andere Engel.
»Ja, aber ich will ihn ein wenig beruhigen«, sagte der erste Engel mit einem kleinen Schulterzucken, wobei er seinen Gefährten verwundert ansah. Das deutlichste Charakteristikum ihrer Züge war dieses gedämpfte Staunen.
»Aber du«, sagte ich, »Setheus - darf ich dich so anre-den? -, lässt es zu, dass sie mich von euch fortführen?
Das kannst du doch nicht. Bitte, verlasst mich nicht. Ich bitte euch. Verlasst mich nicht.«
»Wir können nicht anders«, sagte der andere Engel. »Wir sind nicht deine Schutzengel. Warum kannst du nur deine eigenen Engel nicht sehen?«
»Warte, ich kenne deinen Namen. Ich kann ihn
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