Vittorio
den Steinen der Kapelle, in Todesstarre versunken, wie seit alters her.«
Es gab ein helles, sirrendes Geräusch. Mastema hatte sein Schwert gezogen. In den Sonnenstrahlen, die von den marmorverkleideten Mauern reflektiert wurden, flammte sein roter Helm, als er mit abgewandtem Antlitz das Schwert auf eine Tür richtete. »Dort, die Tür und dann die Treppe dahinter. Die Kirche liegt im dritten Stockwerk links von uns.«
Ich steuerte ohne weiteres Zögern auf die Tür zu und hastete die Stufen hinauf, Stockwerk um Stockwerk. Meine Stiefel klapperten auf den Steinen, und ich achtete nicht einmal darauf, ob die Engel mir folgten oder wie sie es anstellten. Aber dass sie bei mir waren, das wusste ich, denn ich spürte ihre Gegenwart, als könnte ich ihren Atem auf meiner Haut spüren, obwohl sie nicht atmeten.
Endlich erreichten wir den breiten Gang, der rechts zum Hof hin offen war. Vor uns erstreckte sich endlos ein schmaler Teppich mit persischem Blumenmuster auf tief-blauem Grund, der nicht ein bisschen ausgeblichen war.
Und am Ende des Ganges sah man in einem vollkommenen Rahmen den Himmel und ein zerklüftetes Fleckchen grüner Hügel.
»Warum bleibst du stehen?«, fragte Mastema.
Sie hatten sich materialisiert und umringten mich nun mit ihren stets leise bebenden Flügeln, während ihre Ge-wänder kaum merklich um sie strichen.
»Dies ist das Portal zur Kapelle, das weißt du.«
»Ich sehe mir nur den Himmel an, Mastema«, sagte ich,
»nur den blauen Himmel.«
»Und denkst an was?«, fragte einer meiner Schutzengel in seinem klaren, tonlosen Flüstern. Er hängte sich plötzlich an mich, so dass ich seine pergamentfarbenen Finger sehen konnte, die sich schwerelos auf meine Schulter legten. »Denkst an eine Wiese, die es nie gab, und an ein junges Weib, das tot ist?«
»Bist du ganz erbarmungslos?«, fragte ich ihn. Ich dräng-te mich so dicht an ihn, dass meine Stirn ihn berührte, und ich staunte über das Gefühl, staunte darüber, seine opalisierenden Augen so deutlich vor mir zu sehen.
»Nein, nicht erbarmungslos. Nur jemand, der dich immer und immer und immer wieder erinnert.«
Ich wandte mich dem Portal der Kapelle zu. Ich ergriff die beiden riesigen Haken und zog daran, bis ich das Schloss schnappen hörte, dann öffnete ich zuerst den einen, dann den anderen Flügel sperrangelweit, obwohl mir nicht klar war, warum ich mir einen so breiten Flucht-weg schuf. Vielleicht sollte es auch nur ein breiter Durchgang für meine mächtigen Helfer sein.
Vor mir erstreckte sich das große, leere Kirchenschiff, in dem sich ohne Zweifel in der vergangenen Nacht der muntere, blutgetränkte Hofstaat getummelt hatte. Und dort, über meinem Kopf, war die Chorempore, von der herab die ätherischen Klänge gekommen waren.
Die Sonne stach erbarmungslos auf die mit dämonischen Abbildungen geschmückten Fenster ein. Beim Anblick der unnatürlich geflügelten Wesen, die so riesenhaft aus glitzernden, gewölbten Glasstückchen in die Scheiben eingearbeitet waren, schnappte ich erschrocken nach Luft. Das Glas war so dick, seine Facetten so zahlreich, und diese düsteren Monster mit ihren Fledermaus-schwingen grinsten höhnisch auf uns herab, als wollten sie hier im hellen Tageslicht zum Leben erwachen und uns am Fortkommen hindern!
Doch was blieb mir anderes übrig, als meinen Blick von ihnen loszureißen. Stattdessen überflog ich mit den Augen den sich vor mir ausbreitenden Marmorboden. Und da sah ich den Haken, sah ihn, als läge der Boden der Kapelle meines Vaterhauses vor mir, denn genauso flach war er in eine ringförmige Vertiefung des Steins eingelassen. Ein goldener Haken, glatt geschliffen und in gleicher Höhe mit dem Boden, so dass niemand mit Zeh oder Absatz daran hängen bleiben konnte. Er hatte keine Ab-deckung. Er kennzeichnete nur deutlich die Lage des großen Zugangs zu den unterirdischen Gewölben. Ein schmales, langes Marmorrechteck im Zentrum des Kir-chenbodens. Meine Absätze hallten laut durch das leere Kirchenschiff, als ich vorwärts marschierte, um den Haken zu lösen.
Was hielt mich auf? Ich sah den Altar vor mir. Gerade in diesem Moment fiel die Sonne auf das Standbild des Luzifers, dieses riesigen feuerfarbenen Engels, zu seinen Füßen die unzähligen roten Blüten, die nicht weniger frisch waren als in der Nacht, da man mich selbst dorthin gebracht hatte. Ich sah ihn, ah, seine wilden, brennenden gelben Augen - edle Steine, in den roten Marmor eingelassen -, und ich sah die weißen
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