Viva Espana
nicht zu entdecken.
„Im Sommer bleiben die Tiere da, wo es das meiste Wasser gibt. Stierzucht ist eine aufwändige und teure Sache, man darf nichts dem Zufall überlassen", erklärte Ruy.
„Das verstehe ich nicht. Sie müssen doch sowieso sterben", erwiderte Davina. Sie hatte noch nie einen Stierkampf gesehen. Ruy hatte damals versucht, ihr klarzumachen, es ginge dabei nicht um die Lust am Töten und Blutvergießen, sondern es sei noch ein Relikt aus vergangenen Zeiten. Ganz früher hätten die Männer die Fruchtbarkeitsgöttin verehrt, und der Mann, der zu ihrer Partnerin ernannt worden sei, habe ein Jahr als König regiert. Danach habe man ihn geopfert, um immer währenden Wohlstand zu sichern.
Später hätte man anstelle der Männer Stiere geopfert, und daraus habe sich dann der Stierkampf ent wickelt. Für einen Spanier sei es normal und beinah schon so etwas wie eine Zeremonie, einem Stierkampf beizuwohnen. Um einen toten Stier, der sehr tapfer gewesen sei, würde genauso getrauert wie um den Tod eines guten Matadors.
Schließlich kamen sie vor dem lang gestreckten, zweistöckigen Gebäude mit der umlaufenden Veranda an. Schmiedeeiserne Gitter schmückten den Balkon und die Fenster. Zwischen den rot blühenden Bougainvilleen hindurch sah man die weiß angestrichenen Gitter in der Nachmittagssonne leuchten.
Sogleich kam Rodriguez mit einer kleinen, rundlichen Frau auf sie zugeeilt. Die Frau hob Jamie aus dem Wagen, drückte ihn an sich und sagte etwas auf Spanisch, während Davina Mühe hatte, aus dem Auto zu steigen. Sie fror nicht mehr, aber jetzt war ihr viel zu heiß. Das Kleid schien ihr am Rücken zu kleben, und Schweißperlchen standen auf ihrer Stirn. Ihr ganzer Körper tat weh, sie war erschöpft und sehnte sich danach, sich hinlegen zu können.
„Dolores meint, Jamie sei ein echter Silvadores", erklärte Ruy. „Sie hat selbst sieben Kinder, drei davon leben mit ihren Eltern auf der Estanzia, so dass Jamie Spielgefährten hat. Seit dem Tod meines Vaters arbeitet ihr Mann hier als Manager. Die Estanzia ist ihr Zuhause, und Dolores hat sich bestimmt sehr angestrengt, es dir so angenehm wie möglich zu machen."
Davina stieg aus und ging hinter Dolores her in den großen, aber trotzdem gemütlich wirkenden Salon. Sicher, so elegant wie im Palacio war es hier nicht, doch in dem Haus herrschte eine angenehme, familiäre Atmosphäre. Hier konnten sich Kinder frei bewegen und alles anfassen. Die Möbel waren nicht weniger gepflegt als die im Palacio, aber sie wirkten nicht so einschüchternd. Die bequemen Sessel und Sofas mit den vielen Kissen luden geradezu dazu ein, sich hineinsinken zu lassen. Hübsche Webteppiche bedeckten den gefliesten Fußboden. Auf dem niedrigen Tisch stand ein Krug mit einem bunten Blumenstrauß, und eine Wand war mit Bücherregalen bedeckt. Der Raum hätte eher zu einem wohlhabenden Farmer gepasst als zu einem spanischen Grafen. Davina gestand sich ein, dass ihr das Ambiente gefiel. Sie liebte den Duft nach Leder, Bienenwachs und staubigem, heißem Land.
„Ich habe für Sie das Schlafzimmer des Patrons vorgesehen", erklärte die Frau, als sie Davina die gewundene Treppe hinauf ins Obergeschoss führte. Ruy hatte schon erwähnt, dass man auf der Estanzia auf Titel verzichtete. Hier war er einfach nur der Patron, der Chef.
Das Zimmer war sehr groß, und es duftete nach Lavendel. Sogleich entspannte Davina sich etwas. Die Vorhänge und die Tagesdecke wiesen dasselbe Blumenmuster auf wie die Tapete. Das Bett im spanischen Landhausstil war sehr breit. Das angrenzende Badezimmer und der Ankle ideraum waren im selben Stil eingerichtet wie das Schlafzimmer.
„Gefällt es Ihnen?" Dolores sah sie strahlend an. „Alles ist neu, extra für die Frau des Patrons ..."
Davina verkrampfte sich der Magen. Man hatte das alles für Carmelita gemacht. Sie fuhr mit den Fingern über die Tapete. Es gefällt mir, aber es passt genauso wenig zu Carmelita wie der Lavendelduft, überlegte sie.
Rodriguez brachte das Gepäck herauf. Er stellte Davinas und Ruys Koffer in dem großen Schlafzimmer ab. Ich muss mit Ruy noch darüber reden, dass ich hier ein Schlafzimmer für mich allein haben will, überlegte sie.
Die Übelkeit, gegen die Davina während der Fahrt zu kämp fen gehabt hatte, kehrte beim Essen zurück. Dolores hatte ein köstliches Gericht mit gebratenem Hähnchen, Peperoni und Mais zubereitet. Jamie aß mit großem Appetit. Er war eigentlich nie wählerisch gewesen, was das Essen
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