Vögelfrei
vermied es, ihn anzusehen, auch wenn es mich innerlich fast zerriss. »Mach’s gut, Samir. Und alles Gute für die Hochzeit.«
Dann lief ich aus der Wohnung, runter auf die Straße, die im Hellen wie eine Kulisse der Sesamstraße aussah, mit den Backsteingebäuden und den breiten Treppen davor. Vorbei an einer Markise, auf der ein riesiger Plastikhund hockte, an Plattengeschäften und Ramschbuden, an halb abgerissenen Sushiläden und Coffeeshops, über eine große Avenue, bis ich sicher war, dass er mir nicht mehr hinterherlief.
Gegen Weinen hilft bei mir meistens Essen, also zog ich an einem Automatenimbiss für ein paar Münzen fetttriefende halb warme Knishes, die ich nach einem Bissen wieder wegwarf. Erst als ich mir den fettigen Mund abwischte, merkte ich, dass ich vergessen hatte, den violetten Schal aus den Gürtelschlaufen meines Rocks zu ziehen. Ich war froh, dass ich wenigstens etwas aus dieser Zeit behalten konnte, und vergrub für einen Moment mein Gesicht in dem weichen, glänzenden Stoff.
Ich atmete tief durch, suchte mir einen Telefonladen, beschloss, das jetzt durchzuziehen, und wählte in einer stickigen Kabine mit Fingern wie Blei eine Nummer, die ich auswendig kannte. Meine eigene.
Die Stimme meines Mannes klang gequält, und er zögerte, bevor er mir Madhuris Adresse nannte, aber verweigern durfte er mir nichts, also gab er nach.
Wenige Minuten später stand ich wieder im Tageslicht, pfiff ein Taxi heran und gab dem Fahrer eine Adresse, die ich auf ein Kaugummipapier gekritzelt hatte.
»Das ist in der Bronx«, nuschelte er hörbar vorwurfsvoll.
Ich gab ihm fünf Dollar, damit er überhaupt losfuhr. Das Gebäude, vor dem wir hielten, war heruntergekommen und mit Graffitis beschmiert. Ich bat den Fahrer zu warten, aber er stieg umgehend aufs Gaspedal und bog schnell um die nächste Ecke. Ich stieg durch einen undefinierbaren Geruch in den dritten Stock und klingelte. Eine dicke Frau mit Zigarette im Mundwinkel, durch die ihr Englisch mit spanischem Akzent noch schlechter zu verstehen war, öffnete mir. Ich zeigte ihr das Foto, versuchte, sie so überzeugend wie möglich anzustrahlen, und plapperte irgendetwas, damit sie mich für eine Freundin der Gesuchten hielt. Als sie begriff, dass ich nach Madhuri fragte, schrieb sie mir schließlich die Adresse eines Hähnchengrills auf die Rückseite des Fotos, erklärte mir gestenreich, es sei nur einen Block entfernt, und fing an zu erzählen. Sie war gar nicht mehr zu stoppen. Und was sie berichtete, klang nicht gerade nach glamouröser Filmbranche.
Während ich an den überquellenden Mülltonnen vorbeiging, wuchs meine Wut. Was machte ich eigentlich hier? Ich stellte mir vor, wie ich dieses Mädchen schütteln und ihm all das, was ich von ihm hielt, entgegenbrüllen würde.
Und dann sah ich sie.
Sie war wirklich wunderschön. Selbst mit der albernen Papierkappe auf dem Kopf, dem verschwitzten Gesicht und dem blau-weiß gestreiften Kittel. Sie wrang gerade einen großen Mopp über einem Eimer aus. Neben ihr stand ein Mann mit der gleichen Kappe, der aber statt eines Kittels eine Weste mit Abzeichen trug und auf sie einschimpfte. Sie nickte und machte einen Scherz, als sie sich aufrichtete, blinzelte ihm kokett zu; er lachte, tätschelte ihre Hüfte und starrte ihr, als sie wegging, noch lange auf den Hintern. Ich drehte mich um.
Ich sprach nicht mit ihr, schüttelte sie nicht, fragte sie nichts. Ich ging einfach. Drei oder vier Blocks weiter hielt ich ein Taxi an und ließ mich zurückfahren in die Bleecker Street, wo ich Leo anrief und ihm eine Weile zuhörte, wie er weinte und schimpfte. Dann fiel ich aufs Bett und schlief in meinen Kleidern ein.
Ich traf Samir noch einmal, Wochen später. Wahrscheinlich hatte er bei dem ersten Bagelfrühstück in meinem Apartment das Ticket gesehen und am Flughafen auf mich gewartet. Ich hatte mir inzwischen in einer kleinen Praxis in Chinatown das Juno-Tattoo über meiner Brust weglasern lassen; daran glaubte ich nicht mehr. Die restlichen Wochen bis zum Abflug hatte ich mir mit den Museen der Stadt versüßt, war ganze Tage herumgelaufen,
hatte jüdisch, koreanisch und afrikanisch gegessen, Cookies in allen Farben, Formen und Geschmacksrichtungen probiert, bei einer Bootstour Manhattan umrundet, war mit einem Mietwagen durch New Jersey gefahren und hatte viele Abende mit der inzwischen heimgekehrten Madita verbracht. Aber so viel Spaß wie in den Tagen mit Samir hatte ich nicht mehr gehabt.
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