Vögelfrei
es draußen in Strömen gegossen oder sich mein Mann verspätet hatte und ich bei einem Kaffee auf ihn warten wollte. Und immer waren bei meinem Eintritt alle Gespräche schlagartig verstummt; selbst das rasselnde Atmen der Kettenraucher. Ihr Husten und Räuspern hatte ausgesetzt, und alle Gäste starrten mich an, bis ich irgendwo Platz genommen hatte.
Während ich mich daran erinnerte, wie peinlich mir das alles gewesen war, stieß jemand die kleine, mit Spitzendeckchen verhangene Tür auf. Eine bildschöne Vampirfrau sprang heraus auf den Bürgersteig und ergriff meine Hand. Ich schrie kurz und schrill - und wurde in die Kneipe gezogen.
Drinnen schlug mir dichter Nebel entgegen, der mit dem üblichen Zigarettenqualm nichts zu tun hatte. »Ist das toll, dass du hier vorbeischaust, wunderbar, komm rein, rein, rein«, rief eine tiefe, warme Frauenstimme.
Ich wedelte mit der Hand vor meinen Augen, tappte vorwärts und betrachtete die Vampirfrau genauer: Sie war schwarz gewandet und trug lange rote Kunsthaare. Eine enge Corsage schnürte die Taille auf Scarlett-O’Hara-Maße. Ihr wallender Rock aus schuppenartig übereinandergenähter schwarzer Plastikfolie lief in eine lange Schleppe aus. Die nackten Spitzen ihrer kleinen Brüste, die gerade eben über den Rand der Corsage lugten, waren mit blutroten Federn beklebt. Auch von ihren Mundwinkeln lief ein dünner Faden Blut, und als sie mich herzlich
anlachte und mir die Hände entgegenstreckte, bemerkte ich ihre spitzen Eckzähne.
»Na«, sagte sie aufmunternd, »ich bin Gemma, kennst du mich nicht? Du musst dir das Draculinenzeugs wegdenken. Hast du mich nie in eurem Haus gesehen? Du wohnst doch bei dem Mädchen, das immer so altmodisch angezogen ist!? Mir gehört die Wohnung über euch. Für Gäste, als Abstellraum, zum Ausweichen, na ja, eigentlich für die Steuer, aber was soll’s. Ich bin Gemma, Gemma Manussen. Und dich schickt der Himmel. Wir brauchen einen schönen Hals für unsere Aufnahmen. Das machst du, ja? Sag ja!«
Sie zog mich zu einem kleinen Podest, das in rötliches Licht getaucht war. Die Fotografin kam hinter einem Schirm hervor, sagte »Lekker Meisje« zu mir, knöpfte mir die Bluse ein Stück weiter auf und positionierte mich auf dem Podest an eine altertümliche Truhe gelehnt. Sie gab mir eine Anweisung, von der ich nur »Klaar komen« verstand.
»Sie sagt, du sollst den Körper so anspannen, als hättest du gerade einen Orgasmus«, murmelte Gemma, »aber dein Gesicht wird man nicht sehen, keine Sorge.«
Dann beugte sie sich auch schon mit gefletschten Zähnen über mich, und ich hörte den Auslöser klicken. Wir wiederholten die Szene Dutzende Male. Gemma kontrollierte am Laptop jede Kleinigkeit, veränderte hier eine Kerze, da einen Schatten. Sie überließ nichts dem Zufall. Zwischendurch erzählte sie mir, dass sie ein Erotikstudio habe; keinen simplen S/M-Folterkeller, sondern eine Agentur für erotische Inszenierungen ganz nach den Wünschen des Kunden.
»Egal, wie aufwendig auch immer seine Fantasie ist, wir erfüllen sie«, sagte sie und lachte. »Powered by devotion.«
Gemma verlangte mehr Kunstblut und machte sich wieder an meinem Hals zu schaffen. In dem Moment sah ich Hilde draußen vorbeigehen. Ich sprang zur Tür und rief sie in die Kneipe.
Sie sah angeekelt auf die rote Flüssigkeit, die über mein Dekolleté lief, und rieb sofort mit einem Taschentuch daran herum. »Das gibt doch Flecken«, schimpfte sie, »deine Bluse ist aus ungekämmter Rohseide, die kannst du nicht mal reinigen lassen, das kriegst du nie wieder raus.«
Ich zwinkerte Gemma zu und ließ mich von Hilde aus dem kleinen Lokal führen.
»Gemma war die Vampirfrau in der verrauchten Kneipe, mit der ich die Fotos gemacht habe, während ich nach deinem Kurs auf dich gewartet habe«, sage ich zu Hilde. Ich kann ihr ansehen, dass sie sich erinnert. »Sie hat eine Wohnung über dir und eine über ihrem Studio, und ich hab mich bei ihr versteckt, als …«
»… als du vor mir flüchten musstest«, beendet Hilde meinen Satz und versucht, ironisch zu klingen, aber das ist nicht ihre Stärke.
»Ein paar Monate später warst du wieder auf der Flucht«, sagt Gemma, »diesmal vor dir selbst.« Sie nimmt noch eine Brotscheibe und atmet tief das Aroma ein, bevor sie sie zerpflückt und sich ein Stück in den Mund schiebt.
»Oder vielleicht besser: vor den Männern, der Leidenschaft, der Liebe.«
Gemma kann so etwas sagen, ohne dass es auch nur ein bisschen
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