Vögelfrei
sie mit dieser Märchenfeestimme, »liegt sehr oft auf dem Grund eines halb aufgetauten Käsekuchens.«
Ich schniefte. »Über oder unter der Bröselbodenschicht?«
»Genau das«, sie hob streng den Zeigefinger, »ist eines der Geheimnisse im Leben, die es zu ergründen gilt.«
Sie reichte mir eine Gabel, schlüpfte zu mir unter die Decke und schaltete den Fernseher an. Auf dem Bildschirm flackerte der Körper eines gestählten jungen Matrosen, der von einem grantig aussehenden Captain Hook über die Reling gebeugt gefickt wurde. Eine Weile kauten wir schweigend und arbeiteten uns wie die Maulwürfe durch den sahnigen Teig, der oben warm und ab der Mitte von Eiskristallen durchsetzt war.
Als ich in den Boden biss, der mit Mandeln überzogen war, ging es mir tatsächlich ein bisschen besser. Der Matrose fickte nun seinerseits den Smutje, vielleicht als Strafe, weil der der Mannschaft wiederholt Affenragout mit Smutjepipi serviert hatte.
»Wie hast du halb aufgetauten Käsekuchen und Schwulenpornos als Wundermittel gegen Depressionen entdeckt?«, fragte ich und kuschelte mich enger an Gemma. Die Katze miaute einige Male, hoch und jubilierend.
»Erfahrung«, sagte sie. »Wenn ich eins in meinem Job gelernt habe, dann, dass ungewöhnliche Probleme ungewöhnliche Lösungen erfordern. Mittlerweile bin ich Spezialistin auf dem Gebiet.« Sie küsste meine Schläfe, und im Halbschlaf hörte ich sie noch sagen: »Morgen kannst du mein Studio besichtigen, vielleicht gibt es da etwas, das für dich passt.«
Erst einmal wollte ich ihre Wohnung besichtigen. Draußen war es noch dunkel. Gemma seufzte im Schlaf, und ich setzte mich auf. Die Bettfedern knirschten und knarzten. Der schwere Wollquilt rutschte mir über die Brust, und ich sah mich um. An der kleinen Fensterscheibe glänzten Eiskristalle mit einem Kranz aus silbergoldenem Lametta um die Wette. Erst dachte ich, die Wände seien mit einer gemusterten Tapete beklebt, aber dann schälte sich aus dem Geflimmer von Farben und Glitzer ein Herz heraus, danach ein Kinderpärchen, das sich küsste, schließlich ein Hase, der einen Karren zog, und zwei verliebte Pinguine auf einer Eisscholle. Die Wände waren über und über mit kleinen glitzernden Poesiealbumsbildchen bedeckt. Es mussten mehrere Tausend sein, ein riesiges, organisch gewachsenes Kitschmosaik. Ich fühlte mich, als wäre ich in einem Schrein aufgewacht.
Gemma schmatzte und streckte sich neben mir. »Bist du schon wach genug, um Frühstück zu machen?«, nuschelte sie in ihr Kopfkissen. »Ich komm morgens so schwer in die Gänge.«
Ich legte ihr die Decke über, stand auf und machte mich in Unterwäsche in der kleinen Küche zu schaffen. Den leeren Käsekuchenteller ignorierte ich. Zu dem Zeitpunkt war mir schon klar, dass Gemma genau wie ich eine der Frauen sein musste, die immer und überall Hunger haben. Ich briet ein paar Eier, und als ich eher nebenher das Waffeleisen entdeckte, beschloss ich, auch noch Kakaowaffeln zu backen. Gemma war mittlerweile ganz wach, saß aufrecht im Bett und strickte. Ihre dicken Nadeln klapperten. Auch der Fernseher lief wieder, aber
statt der Schwulenpornos vom Vorabend hatte sie einen Verkaufskanal eingeschaltet und sah so gespannt zu, als verfolgte sie einen Krimi. Ich schaufelte Eier, Toast und Waffeln auf große Teller und setzte mich zu ihr. Sie nahm das Telefon vom Nachttisch, klemmte sich den Hörer zwischen Kinn und Schulter und bestellte die angepriesenen Klebebildchen mit tanzenden Elfen und schließlich noch einen Bogen mit Einhörnern. Dann gingen die Moderatoren zu Perlenbastelsets über, und Gemma schaltete den Ton ab.
»Das hier hat ein paar Jahre gedauert«, sagte ich, als wäre es eine Frage, und zeigte mit der Gabel rundum an die Wände. Sie nickte.
»Die Narbe da über der Brust und die am Oberarm, sind das Überbleibsel einer Inszenierung?«
Ich schüttelte den Kopf. Sie kaute ein großes Stück Waffel. »Kannst du ruhig sagen, ich hab schon alles gesehen. Zigarettenverbrennungen, Messerspiele, Nadelrituale, Selbstamputationen, erotisches Branding, Vernähungen und Implantate …«
»Ist ja gut«, unterbrach ich sie, »es war nur ein Tattoo, und das andere war eine Art Unfall.« Damit gab sie sich zufrieden.
»Was ist dein aktuelles Projekt?«, fragte ich stattdessen. »Irgendwas mit Keile und Haue? Planst du einen S/M-Club Geißelpeter, in dem alle Damen Dirndl tragen? Was machst du eigentlich genau?«
Gemma überlegte.
»Das Aufwendigste war
Weitere Kostenlose Bücher