Vogel-Scheuche
sie fischen gehen, tat sie das mit Hilfe eines Garneols. War sie durstig, und traute sie dem örtlichen Grundwasser nicht (Liebesborne und Haßquellen waren zwar ziemlich selten, doch wozu ein Risiko eingehen?), konnte sie Zitr o nensaft aus einem Zitrin pressen, Olivensaft aus einem Olivit oder eben auch etwas Milch von einem Milchtopas. Langsam begriff Chena, daß ihr Talent doch wohl um einiges mächtiger sein mußte, als die Ältesten der Zentaureninsel angenommen hatten. Es war zwar nicht von Zauberi n nenkaliber, aber doch außerordentlich nützlich hier draußen in der ka r tographisch nicht erfaßten Wildnis von Xanth.
Wahrscheinlich hatte man geglaubt, sie werde schon bald umkommen, vereinsamt und ohne fremde Hilfe, so daß man sich ihrer entledigen konnte, ohne sie erst hinrichten zu müssen, ohne sich die Hände schmutzig zu machen. Doch das würde wohl eine Enttäuschung geben – vielleicht.
Chena ging keine unnötigen Risiken ein. Schließlich war sie eine Ze n taurin und besaß eine herausragende Intelligenz und ein ausgeprägtes Urteilsvermögen. Gleich beim ersten Pastetenbaum deckte sie sich mit einem Vorrat ein, für den Fall, daß sie keinen weiteren mehr finden wü r de. An diesem Abend verzehrte sie eine Bananencremepastete, weil die zu matschig war, um im Rucksack lange zu halten; dazu eine Schlüsselzi t ronenpastete, die schon überreif war. Vorsichtig pickte sie die Schlüssel heraus, um die Zitronen zu verzehren, und wollte sie gerade fortwerfen, als sie es sich anders überlegte und sie doch lieber aufbewahrte. Vie l leicht würde sie diese Schlüssel später noch einmal brauchen. Schlüsse l steine konnten schließlich nicht alles öffnen.
Wohin nun? Sie hatte keinerlei Idee. Schließlich hatte sie diesen Au s flug ja nicht freiwillig angetreten. In dieser Gegend durfte sie nicht lange bleiben, weil hier regelmäßig Zentaurenjagdtrupps vorbeikamen. Ja, sie wagte es nicht einmal, ihre Pfade zu benutzen, denn sollte jemals ein Zentaur von der Insel sie erblicken, würde er sie auf der Stelle töten. Andererseits war sie sich unglücklicherweise auch sicher, daß das Land um so gefährlicher werden würde, je weiter sie sich von der Insel en t fernte. Man hatte ihr nicht gestattet, eine Waffe mitzunehmen, was die Lage noch verschlimmerte. Zwar würde sie sich einen groben Stock oder eine Keule anfertigen können, was sie aber wirklich brauchte, war ein gutes Messer oder einen Bogen.
»Ich wünschte, ich hätte einen wirklich guten Bogen und Pfeile dazu«, murmelte sie. »Und ich wünschte, ich wüßte, was ich jetzt tun soll.«
Da hörte sie etwas. Es klang wie Hufschlag. War das ein Einhorn – oder gar ein Zentaur? Schnell versteckte sie sich gerade dort, wo die wenigsten Leute nachsehen würden: hinter einem Gewirrbaum. Das durfte sie riskieren, weil sie an den frischen Knochen erkannte, daß der Baum gerade erst ordentlich geschmaust haben mußte. Demzufolge würde er die nächsten ein, zwei Tage Ruhe geben. Es war zwar eine ne r venzerreißende Taktik, aber immer noch nicht so nervenzerreißend, wie in voller Sichtweite eines Zentaurenschützen zu verharren.
Sie spähte zwischen den ruhelosen Fangarmen des Greifers hinaus. Es war sogar ihr ältester Bruder, Carlton Zentaur! Das jagte ihr einen furchtbaren Schrecken ein, denn immer, wenn sie Versteck gespielt ha t ten, war es ihm gelungen, sie aufzuspüren, egal, wie raffiniert sie sich versteckt hatte.
So kam er auch jetzt geradewegs auf sie zugaloppiert, und einen A u genblick lang war sie sich sicher, daß er sie gesehen haben mußte, doch da galoppierte er auch schon an ihr vorbei. Dann machte er plötzlich kehrt und kam zurückgetrabt, um vor dem Gewirrbaum stehenzuble i ben. Wieder war sie davon überzeugt, daß er sie gesehen haben mußte. Was hatte er nur vor? Sie waren immer gut miteinander ausgekommen, doch wenn es irgend etwas gab, das noch stärker war als die Boge n schießkunst eines Zentauren, so war es seine Ehre, und es würde ein Gebot der Ehre für ihn sein, sie auf der Stelle hinzurichten, sollte er sie jemals wieder in Nähe der Zentaureninsel erblicken.
Carlton stand in der Nähe ihres Baumes, den blick allerdings abgewe n det. »Jetzt kann ich niemanden sehen«, erzählte er dem Wald. »Und ich rechne auch gar nicht damit. Aber mir ist eingefallen, daß jemand, sollte er sich hier mal verirrt haben, bestimmt etwas gebrauchen könnte, de s halb lasse ich es für alle Fälle mal hier. Außerdem gestatte ich
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