Vogel-Scheuche
verhindert?«
WEISHEIT IST NICHT DASSELBE WIE VORAUSWISSEN. PHELRAS’ BESUCH IM NAMENLOSEN SCHLOSS WAR IM PRINZIP EIN WILLKÜRLICHES EREIGNIS, DAS NICHT VORAUSZUSEHEN GEWESEN WÄRE. DER SCHADEN WAR BEREITS ANGERICHTET, BEVOR ICH HANDELN KONNTE.
»Also hast du nichts unternommen?«
ICH HABE DIE EREIGNISKETTE EINGELEITET, DIE SCHLIESSLICH ZU DIESEM VERFAHREN FÜHRTE.
»Obwohl du genau wußtest, daß die Angeklagte nichts von ihrer Ve r letzung der Erwachsenenverschwörung ahnte?«
»Einspruch! Spekulation! Mutmaßung!«
»Der Simurgh weiß alles«, erwiderte Ida gelassen. »Sie ist also qualif i ziert, uns ihre Meinung mitzuteilen.«
»Trotzdem handelt es sich um Beeinflussung«, widersprach Grey.
Der Richter überlegte kurz. »Formuliere die Frage neu.«
»Glaubst du, daß die Angeklagte sich ihres Verstoßes bewußt war?«
NEIN.
»Warum hast du dann…«
»Einspruch! Die Zeugin steht hier nicht unter Anklage.«
»Stattgegeben. Die Zeugin braucht die Frage nicht zu beantworten.«
ICH WERDE ES DENNOCH TUN. ICH HABE DIESES VERFAHREN EINGELEITET, WEIL UNWISSENHEIT KEINE ENTSCHULDIGUNG IST. ES HAT EIN VERSTOSS STATTGEFUNDEN, UND MIT DEM HAT SICH DAS GERICHT ZU BEFASSEN.
»Obwohl doch…«
»Einspruch!«
»Stattgegeben.«
Ida zuckte die Schultern, sah aber gar nicht enttäuscht aus. Metria verstand, warum: Die Geschworenen – sowohl die menschlichen wie die Ungeheuer – verstanden den unausgesprochenen Einwand und ließen sich davon beeindrucken.
»Keine Fragen mehr an diese Zeugin«, sagte Ida.
»Die Zeugin möge den Stand verlassen.« Das kleine Abbild verblaßte.
Grey Murphy erhob sich. »Die Anklage verzichtet auf die Vernehmung weiterer Zeugen«, verkündete er.
Er hatte nur zwei Zeugen in den Stand gerufen, doch hatte das genügt: Sie hatten zweifelsfrei belegt, daß die Angeklagte ein Verbotenes Wort ausgesprochen hatte, und dies in Gegenwart eines minderjährigen Ki n des. Roxanne Roc steckte bis zu den Flügeln im Mist.
15 – Verteidigung
Der verheerende Blick des Richters schweifte zu Prinzessin Ida hinüber. »Ist die Verteidigung bereit?«
»Ja, Euer Ehren.«
»Fortfahren.«
»Die Verteidigung ruft den Simurgh in den Zeugenstand.«
»Einspruch! Sie hat gesagt, daß sie keine Fragen mehr an diese Zeugin hat.«
»Das betraf nur das Kreuzverhör. Jetzt rufe ich sie als meine Zeugin in den Stand. Das ist etwas völlig anderes.«
Der Richter rollte ausdrucksstark ein Auge, entschied aber: »Einspruch abgelehnt.«
Das Abbild des Simurgh erschien erneut im Zeugenstand. Ida sprach es an: »Du hast erklärt, daß dein Ei vor sechshundert Jahren gelegt wu r de und daß du das Namenlose Schloß errichtet hast, um es auszubrüten. Wann hast du Roxanne Roc zur Nisthenne bestimmt?«
IM JAHR 500.
»Also fünf Jahre, nachdem du das Ei gelegt hast?«
JA.
»Und bis dahin mußtest du dich ganz allein um das Ei kümmern?«
»Einspruch! Das gehört nicht zur Sache!«
»Ich will die Bedeutung der Dienstpflicht der Angeklagten feststellen. Das steht auch in Zusammenhang mit ihrem Charakter.«
Grey schüttelte den Kopf. »Bedeutung und Charakter stehen nicht zwingend in einem Zusammenhang. Die Anklage räumt ein, daß die Aufgabe wichtig ist. So wichtig, um genau zu sein, daß jede Verletzung der Dienstpflicht als äußerst ernste…«
»Einspruch! Die Anklage hat ihren Standpunkt bereits vorgetragen.«
Richter Fetthufs säuerlicher Mund zuckte. »Dem Einspruch der Ve r teidigung wird stattgegeben. Der Einspruch der Anklage wird abgelehnt. Doch man stelle die begrenzte Geduld dieses Gerichts nicht durch eine allzu freie Ausdeutung der jeweiligen Aufgabe auf die Probe.«
Ida lächelte den Richter zuckersüß an. Metria fiel auf, daß sie sehr hübsch aussah, wenn sie das tat. Wahrscheinlich glaubte sie, damit einen günstigen Eindruck zu machen, und wenn sie das glaubte, war es auch so. Sogar ihr kleiner Mond schien zu leuchten. Das würde noch größere Wirkung zeitigen, wenn sie sich erst an die Geschworenen wandte. Doch jetzt sprach sie wieder mit der Zeugin. »Du hast für das Ei gesorgt…«
JA.
»War es schwierig, das Ei zu bebrüten, während du zugleich den S a menbaum auf dem Berg Parnaß bewachen und deinen anderen Ve r pflichtungen nachgehen mußtest?«
JA.
»Und deshalb hast du eine Nisthenne für dein Ei bestimmt?«
»Einspruch! Die Verteidigung legt der Zeugin Aussagen in den Mund.«
»Dieser Zeugin kann niemand etwas gegen ihren Willen in den Mund legen«, versetzte
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