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Vogelfrei

Titel: Vogelfrei Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julianne Lee
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sich neben ihn auf die Pritsche. Dylan richtete sich auf; es flößte ihm ein gewisses Unbehagen ein, so eng neben ihr zu sitzen, aber er wollte sie auch nicht wieder fortschicken. Die Nische vermittelte ihnen ein trügerisches Gefühl von Privatsphäre, besonders des Nachts, und er wusste, dass sie leichtsinnig handelten. Sie nahm seine Hand und sagte leise genug, um nicht auf der Treppe gehört zu werden: »Ich hoffe, du hast bei uns ein neues Zuhause gefunden.« Dann küsste sie seine Fingerknöchel, auf denen die drei schmalen Narben noch rötlich schimmerten.
    Einen Moment lang hörte die Welt auf, sich zu drehen; er fühlte sich losgelöst von Zeit und Raum; an einen Ort versetzt, von dem es kein Zurück mehr gab. Endlich beugte er sich langsam vor und berührte ihre Lippen leicht mit den seinen; mit angehaltenem Atem, voller Angst, sie könnte vor ihm zurückweichen.
    Sie tat es nicht. Stattdessen grub sie ihre Finger in sein Haar und presste ihn an sich. Ihre Lippen öffneten sich unter den seinen, und er trank wie ein Verdurstender von ihr, hätte sie am liebsten in sich aufgesogen ... sie zu einem Teil seiner selbst gemacht.
    Endlich kam er wieder zur Besinnung, gab sie widerstrebend frei und stand auf, obwohl er nicht sicher war, ob seine Beine ihn tragen würden. Er räusperte sich und blickte zu Boden, denn es fiel ihm nicht leicht, ihr zu sagen, was er nun sagen musste. »Du solltest jetzt lieber in deine Kammer zurückgehen. Allein.«
    Sie schwieg eine Weile, dann stimmte sie zu. »Aye, es ist wohl besser so. Falls Artair oder Coll auf die Idee kommen sollten, einen kleinen nächtlichen Spaziergang zu unternehmen, würde es ihnen gar nicht gefallen, dich nicht in deinem Bett und mich nicht in meiner Kammer vorzufinden.«
    Er betrachtete sie eindringlich, als sie sich erhob. In ihren Augen las er dieselben tiefen, alles andere auslöschenden Gefühle, die auch ihn durchströmten. Heiser wünschte er ihr eine gute Nacht, küsste sie noch einmal und sah ihr nach, als sie in ihrer Kammer verschwand und die Tür hinter sich schloss.
    Dann ließ er sich seufzend rücklings auf seine Pritsche fallen, starrte auf die tanzenden Schatten an der Decke, bis die Kerze erlosch, und blieb noch lange schlaflos im Dunkeln liegen.
    Der Winter hielt das Land auch weiterhin in seinem eisigen Griff. Dylan lieh sich von Robin Innis Bogen und Pfeile, und an den Tagen, an denen Cait ihn entbehren konnte, ging er zu dem Eichenwäldchen am Fuß des Nordhangs und übte sich im Umgang mit dieser Waffe. Da im Hochland zumeist Pfeil und Bogen, Dolche oder Schwerter statt Flinten zur Jagd benutzt wurden, musste er sich zumindest Grundkenntnisse im Bogenschießen aneignen. Er hoffte nur, dass er sich nicht blamieren würde, wenn er in der Gegenwart anderer sein Geschick unter Beweis stellen musste. Es dauerte lange, bis er sich zu einem verhältnismäßig sicheren Schützen gemausert hatte, trug ihm einen vom Spannen der Sehne zerschlissenen Mantelärmel ein und kostete ihn viel Zeit, weil er die verschossenen Pfeile im Schnee nur schwer wiederfand.
    Im Laufe dieser kalten Wochen gab es Höhen und Tiefen im Leben des Clans. Einem der Pächter wurde eine Tochter geboren, die jedoch nach wenigen Tagen starb. Dies rief hitzige Diskussionen im Dorf hervor, denn das Neugeborene hätte von der Hebamme getauft werden müssen, weil kein Priester verfügbar gewesen war. Jeder Einwohner von Ciorram vertrat seine eigene Meinung darüber, ob das Kind trotzdem in den Himmel gekommen war, und so kam es oft zu lautstarken Auseinandersetzungen unter den im Schnee gefangenen Mathesons. Dylan fand es sinnlos, sich über eine Frage zu streiten, die ohnehin niemand beantworten konnte, und weigerte sich, dazu Stellung zu nehmen. Dann sah er eines Abends die trauernden Eltern in der großen Halle und hoffte um ihretwillen, dass ihr kleines Mädchen jetzt doch im Himmel war.
    Ein schweres Fieber suchte Burg und Dorf heim und raffte Marsailis jüngere Tochter, Sarahs kleinen Sohn und Nana Pettigrews alte Mutter dahin. Das Wetter wurde noch schlechter, und eine bedrückte Stimmung legte sich über die Bewohner des Tals. Sarahs tragischer Verlust bewog Si-nann, ihre Anstrengungen, Dylan für die Witwe zu begeistern, noch zu verstärken.
    »Sie braucht dich jetzt, mein Freund.«
    Dylan war in der menschenleeren Halle mit seinem Trainingsprogramm beschäftigt. Die Sonne war noch nicht aufgegangen, das Feuer noch nicht angefacht, und die Fackeln an den Wänden

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