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Vogelfrei

Titel: Vogelfrei Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julianne Lee
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nicht daran teilnehmen wollen, wusste aber auch nicht, wie er seine Weigerung begründen sollte. Cait dagegen war entschlossen, hinzugehen, also begleitete er sie und schwor sich insgeheim, nicht hinzusehen, wohl wissend, dass er diesem Vorsatz nicht treu bleiben würde.
    Der Galgen bestand lediglich aus einem in die Erde geschlagenen hohen hölzernen Pfahl mit einem Querbalken, unter dem eine Leiter lehnte. Der Strick war bereits letzte Nacht angebracht worden; seine Länge entsprach sowohl der Höhe des Galgens als auch der Größe des Mannes, der gehängt werden sollte. Er verlief durch ein Loch im Querbalken wieder nach unten und war an einem Pflock befestigt; am anderen Ende baumelte eine Schlinge. Die Mathe-sons scharten sich um die grausige Konstruktion, zum Schutz gegen die morgendliche Kälte hatten sie sich in Plaids und Umhänge gehüllt. Alle wirkten sichtlich angespannt, und manch einer schien vor Kummer über den bevorstehenden Tod seines Nachbarn und Freundes den Tränen nahe zu sein. Dylan bemerkte voller Abscheu, dass sich unter den Zuschauern auch zahlreiche Kinder befanden. Der einzige Matheson, der fehlte, schien Ranald zu sein, und darüber war Dylan nicht traurig.
    Als sich der Himmel zartblau färbte, teilte sich die Menge, um den mit einer Kapuze maskierten Henker und seinem Opfer den Weg freizugeben. Der Verurteilte war totenblass, wirkte aber ansonsten ruhig und gefasst. Er stieg die wackelige Leiter empor, bis sich sein Kopf oberhalb der Schlinge befand. Der Henker folgte ihm, um Wilkie die Hände zu fesseln, dann stieg er ein paar Sprossen höher und legte ihm die Schlinge um den Hals. Die Leiter erzitterte unter dem Gewicht der beiden Männer. Der Henker zog die Schlinge fest und kletterte dann wieder herunter. Wilkie blickte zu der Stelle hoch, wo die Leiter an dem Pfahl lehnte, und begann, auf seiner Sprosse leicht auf- und abzufedern, bis die Leiter gefährlich ins Schwanken geriet.
    Iain Mór trat vor und fragte mit weithin hallender Stimme: »Hast du noch etwas zu sagen, Mann?«
    Der Verurteilte sah zu dem Henker hinüber, der sich bereithielt, um ihm die Leiter unter den Füßen wegzuziehen. »Nein«, erwiderte er fest, sprang in die Höhe und versetzte der Leiter einen kräftigen Tritt. Sie fiel zu Boden und er stürzte mit ihr in die Tiefe. Kurz bevor seine Füße den Boden berührten, war das Ende des Seiles erreicht; sein Genick brach mit einem deutlich vernehmbaren Knacken. Die Zuschauer hielten den Atem an, während er sich langsam mehrfach um die eigene Achse drehte. Dann berührte die Spitze seines Schuhs den Boden, und der Leichnam kam zur Ruhe.
    Dylan wandte den Blick erst ab, als er Urin an Wilkies Bein herabrinnen sah; eine dunkle Pfütze bildete sich unter ihm im Staub.
    Cait flüsterte ihm zu: »Hast du noch nie gesehen, wie jemand gehängt wird?«
    Er schüttelte wortlos den Kopf.
    »Lassen sie dort, wo du herkommst, Mörder tatsächlich am Leben?«
    »Manchmal schon.«
    Als sie ihn daraufhin entgeistert ansah, kam er zu der Erkenntnis, dass es in diesem Jahrhundert Dinge gab, die er wohl nie begreifen würde.

12.
    Sobald der Leichnam abgenommen und begraben, der Henker bezahlt und der Galgen abgebaut worden war, nahmen die Bewohner von Glen Ciorram für ein paar Tage ihr normales Leben wieder auf, dann kehrte Festtagsstimmung im Tal ein. In der Burgküche wurden Vorbereitungen für eine Feier getroffen, die, wie Dylan vermutete, am ersten Mai, also in zwei Tagen stattfinden sollte. Einige bezeichneten es als Maifest, andere nannten es Beltane, das gesamte Tal war in heller Aufregung. Auch Cait strahlte eine fiebrige Erregung aus; sie warf ihm immer häufiger lange Blicke zu und schien sich nicht darum zu scheren, ob jemand dies bemerkte. Auch fand sie ständig Vorwände, um ihn zu berühren; sie legte ihm eine Hand auf den Arm oder streifte mit der Schulter seine Brust. All dies blieb nicht ohne Wirkung auf Dylan, und am liebsten wäre er herumgegangen und hätte lauthals herausposaunt, dass sie seine Frau werden würde.
    Das Fest wurde in dem kleinen Kiefernwäldchen auf dem Kamm des nördlich des Dorfes gelegenen Hügels abgehalten; bei Sonnenuntergang entfachte man dort ein riesiges Feuer. Alle Bewohner des Tales fanden sich nach und nach dort ein, sogar die Krüppel und die Kranken, die zum Teil von ihren Verwandten meilenweit getragen wurden, damit sie an den Festlichkeiten teilnehmen konnten; zusammengekauert saßen sie auf eigens herbeigeschafften Stühlen

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