Vogelfrei
hier zu verschwinden, stieg er, statt Siggy zurück zur Herde zu folgen, weiter den Hang empor, um festzustellen, was dort gestorben war. Vielleicht war es ein Hirsch, dessen Geweih er verkaufen konnte. Einige Männer im Dorf fertigten aus Hirschgeweihen, Hörnern und Hartholz Löffel und Messergriffe. Er zog Brigid aus der Scheide und kletterte in der Hoffnung, etwas Brauchbares zu finden, über einen weiteren Felsbrocken. Doch das, was er dahinter vorfand, ließ ihn zurücktaumeln. Er hustete würgend, um den öligen Gestank aus dem Mund zu bekommen. Einen Moment lang fürchtete er, sich übergeben zu müssen, und schloss die Augen, bis sich sein Magen wieder beruhigt hatte. Dann schlug er sie wieder auf und erblickte den zwischen zwei Granitblöcken eingeklemmten, aufgedunsenen, gespenstisch bleichen Leichnam von Marsailis Mann Seóras Roy.
11.
Das Gesicht war kaum wieder zu erkennen. Hätte Dylan nicht gewusst, dass Seóras vermisst wurde, hätte er den aufgeblähten Kadaver trotz des roten Bartes schwerlich mit dem verängstigten Mann in Verbindung gebracht, den er am Morgen des Allerheiligenfestes in der großen Halle gesehen hatte.
Noch etwas anderes fiel ihm auf: An der rechten Hand des Leichnams fehlten drei Finger, an der linken einer. Er hielt die Luft an, bückte sich, schob das zerschlissene Leinenhemd zur Seite und legte den von Maden wimmelnden Brustkorb frei. Seóras war seit November nicht mehr gesehen worden, war aber noch nicht bis zur Unkenntlichkeit verwest; zweifellos hatte die winterliche Kälte den Leichnam konserviert. Die Haut fehlte weit gehend, und das darunter liegende Fleisch war teilweise verrottet, trotzdem konnte Dylan feststellen, wie der Mann zu Tode gekommen war. Das Brustbein und mehrere Rippen waren zersplittert; dies und die Wunden an den Händen, die der Mann sich zugezogen hatte, als er sich zur Wehr setzte, verrieten Dylan, dass er im Kampf erstochen worden sein musste. Darüber hinaus war er vor seinem Tod wahrscheinlich entwaffnet worden.
Dylan kehrte zu den anderen zurück und berichtete ihnen von seinem Fund. Malcolm stieg den Hang hoch, untersuchte den Leichnam und kam zu demselben Schluss wie Dylan. Er schickte Dylan und die anderen Mathesons mit der Herde weiter zu dem ausgewählten Weideplatz und eilte mit den MacLeods auf schnellstem Wege zur Burg. Drei Männer trugen den in seinen eigenen Kilt gehüllten Leichnam vorsichtig zwischen sich, um zu verhindern, dass er zerfiel.
Sobald die Herde in Sicherheit war, kehrten auch die Mathesons zur Burg zurück. Dort war der Mord bereits in aller Munde, in der von Fackeln erleuchteten großen Halle herrschte helle Aufregung. Sämtliche Männer des Clans hatten sich versammelt und diskutierten darüber, was wohl geschehen sein mochte und was jetzt zu tun war. Die Frauen hielten sich im Hintergrund. Dylan hielt nach Cait Ausschau, konnte sie aber nirgends entdecken.
Den stinkenden Leichnam hatte man in ein Leichentuch gewickelt und in der Halle neben den Toren zum Burghof, die jetzt wegen des widerlichen Geruchs weit offen standen, auf einem Holztisch aufgebahrt; allerdings schenkte niemand dem Toten viel Beachtung. Iain Mór stand mit Malcolm, Artair und Coll draußen im Hof und war in ein hitziges Gespräch mit ein paar anderen Männern verstrickt, in dessen Mittelpunkt Myles Wilkie zu stehen schien. Er war der Vater der verbannten Iseabail, deren Kind Berichten zufolge Anfang Januar in Inverness zur Welt gekommen war; Myles starrte zu Boden und nagte an seiner Unterlippe.
Iain fragte ihn streng: »Kannst du mit gutem Gewissen behaupten, dass du ihn nicht töten wolltest?«
Wilkie gab keine Antwort und hob auch nicht den Kopf, aber seine Augen füllten sich mit Tränen.
»Schwörst du bei allem, was dir heilig ist, dass du es nicht getan hast?«
Atemlose Stille trat ein. Alle Männer warteten gespannt, was der Tatverdächtige von sich geben würde. Dieser hob endlich den Kopf, sah Iain in die Augen und sagte: »Er hat Schande über uns alle gebracht.«
Iain verschränkte die Arme vor der Brust. »Genau wie deine Tochter. Das Ganze war eine hässliche und vor allem überflüssige Angelegenheit, denn sie hätte vermieden werden können, hättest du als Vater mehr Verantwortungsgefühl bewiesen.«
Dylan senkte den Blick und fragte sich, was der Laird wohl sagen würde, wenn er wüsste, dass seine eigene Tochter heimlich mit ihrem Leibwächter verlobt war.
Wieder warteten alle gespannt auf eine Antwort von Wilkie,
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