Vogelstimmen - Bernemann, D: Vogelstimmen
eine einzige soziale Unruhe vor. Der Stich in den Ameisenhaufen. Ich schloss die Augen, auf dem MP3-Player liebkoste mich instrumentale Klavierwohlfühlmusik. Es war gut, der lauten Wildnis des urbanen Zentrums eine zärtliche Melancholie in Musikform entgegenschleudern zu können.
Plötzlich erkannte ich zwei Sitzreihen vor mir den kleinen Araber, der vor einigen Wochen als passivstes Mitglied des primitiven Kinderschlägerclubs das dicke Mädchen auf dem Fahrrad niedergeprügelt hatte. Ohne seine lauten Freunde um ihn sah er noch belangloser aus als sonst. Er saß allein auf einer dieser gegen die Fahrtrichtung gekehrten Bänke und starrte versonnen nach draußen. Er trug ein T-Shirt, auf dem «Blowjob is better than no job» zu lesen war. Ihm gegenüber saß ein dickes Mädchen, das bei jeder Bewegung seltsame Geräusche von sich gab, und als sie sich einmal kurz umdrehte, sah ich, dass es die Opferbitch von letztens war. Ihr Gesicht war noch ziemlich lädiert und angeschwollen, aber man konnte nicht wirklich differenzieren, wo bei ihr der Körper aufhörte und die Schwellung anfing. Die beiden saßen still da, schwiegen, ab und zu schauten sie sich an, als hätten sie ein Geheimnis zu verbergen, dessen Offenbarung alle determinierten Abläufe der bislang bekannten Welt in Frage stellen könnte. Nach zwei Haltestellen stiegen die beiden aus, und als der Bus wieder anfuhr, sah ich, wie der kleine Araber das dicke Mädchen umarmte und sie küsste, und da wusste ich, dass die Liebe die Leute retten kann. Vielleicht waren seine Kumpels schon verloren, weil sie so lieblose Gewalttäter waren, aber ich glaubte wieder an was, als ich die Kinder auf dem Bürgersteig sich küssen sah. Die Geschwindigkeit des Busses ließ die beiden aus meinem Blickfeld gleiten.
Die Abläufe im Laden waren aber wieder von einer Wiederholbarkeit gezeichnet, die eigentlich keinen Bock hat, irgendwas zu zeichnen. Lieblos hingeschmierter Arbeitsalltag würde so ein Gemälde heißen, das uns die alltägliche Langeweile auf die Leinwände der Existenz malt.
Frau Braun war schon den ganzen Tag sehr aufgekratzt, irgendetwas schien sie mental so festzuhalten, dass sie zu keiner regulären Kommunikation in der Lage war. Sie schleuderte achtlos Halbsätze durch die Gegend, in einer Tonlage, die unemotionaler kaum hätte sein können. Claudia war unterkühlter Profi, so wie immer, ihre Stimme war lediglich Dienstleistung, ansonsten nicht zu hören. Sie würde es noch weit bringen als Verkäuferin, aber ihre Qualitäten als Mensch passten in eine handelsübliche Streichholzschachtel. Empathie spielen konnte sie gut, das gehörte ja auch zum Beruf, aber wirklich welche zu haben, das war ihr augenscheinlich fremder als einem Veganer ein Schweinekotelett.
Ich ordnete gerade einige Bücher ins Regal. Popliteratur. Leider nichts dabei, was mich wirklich interessiert hätte. Ein paar Bücher schwedischer Autoren, wenige Deutsche und der Rest waren Briten und Amerikaner. Plötzlich bemerkte ich, wie Frau Braun sich zitternd hinter mich stellte. «Ist der neue Irvine Welsh dabei ... Ach egal ... ich wollte mal was sagen.» Sie zwirbelte sich an ihrem Rocksaum herum und strich das knielange Ding glatt. Ich richtete mich auf und fragte mich, was das denn jetzt hier wohl für ein Gespräch werden würde. «Nächste Woche mache ich Urlaub.» Ich sah ihr in die zusammengekniffenen Augen und nickte. Wir waren ungefähr gleich groß, also auf einer Augenhöhe. «Ich werde danach nicht zurückkommen.» Ich war verwirrt. Frau Braun beabsichtigte, ihren Job zu schmeißen, den mit den Büchern, den, der in meiner Empfindung immer alles für sie zu sein schien. Eine Erfüllung. Sie sprach ausdrucksarm weiter, ihre Augen stachen durch meine. «Seit der Scheidung von meinem Mann war ich nicht mehr glücklich», fuhr sie langsam und behutsam sprechend fort, «und ich weiß, dass ich hier auch nicht mehr glücklich sein werde, nicht an diesem Ort, nicht in dieser Stadt, also muss ich gehen.» Ich räusperte mich, mir fehlte Speichel im Hals. «Ehm, wohin denn und was genau haben Sie vor?» Eine durchaus berechtigte Frage, wie ich fand. «Indien», schoss aus ihr heraus und ihre großen Augen begannen zu leuchten, dazu stemmte sie sich ein Lächeln ins Gesicht, das ich so bei ihr noch nie gesehen hatte. «Ich werde nach Indien gehen. Weißt du, ich liebe das Leben und ich sterbe hier jeden Tag. Diese verdammte Großstadt ist ein Gefängnis, dieser Laden hier ist ein
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