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Vogelweide: Roman (German Edition)

Vogelweide: Roman (German Edition)

Titel: Vogelweide: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Timm
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trinken, sein Baguette mit der gesalzenen Butter aus der Bretagne zu bestreichen und darauf die Orangenmarmelade oder das Johannisbeergelee zu schmieren – was alle Frauen, mit denen er gefrühstückt hatte, seltsam fanden, zur salzigen Butter süße Marmelade zu essen –, um dann, wenn es regnete, hinunter in die Tiefgarage zu fahren, den Saab anzulassen, sich jedes Mal, wenn er ansprang, zu freuen – und wenn nicht, rief er ein Taxi und freute sich auch, konnte er sich doch endlich mal wieder die Hände schmutzig machen. Seiner Freude gab er mit einem Urschrei Ausdruck, von dem er behauptete, er sei, natürlich zarter, der seiner Geburt gewesen. So begann sein Arbeitstag, er fuhr ins Büro, stellte den Wagen an dem für ihn bestimmten Platz ab, nahm nicht den Fahrstuhl, federte die Treppe hoch, noch war niemand in dem großen Raum, noch waren die Monitore ausgeschaltet, er ging in sein Büro, fuhr seinen Rechner hoch, las die Mails, beantwortete Anfragen, seine strahlende Assistentin kam, er begrüßte sie, mit der er niemals zu schlafen versucht hatte, besprach Termine, die erste Konferenz, er telefonierte mit Kunden, gab Anweisungen, besprach Probleme, ja, er war süchtig nach Problemen, er liebte es, mit Leuten zusammenzusitzen, die ihn fragten, objektive Probleme, wie die gelöst werden könnten, unzufriedene Kunden, falsche Berechnungen, fehlgeleitete Bestellungen, er ging zum Essen, stets waren das Geschäftsgespräche, mit einem seiner Mitarbeiter, früher mit seinem Partner Fred, mit Kunden, Konkurrenten, nachmittags die Tageskonferenz, nochmals Durchsicht der Mailpost, die Assistentin sagte, mach heute Abend nicht so lange, ja, sie waren alle per Du, und nachts ging er zu Selma oder zu einem Geschäftsessen, und selten auf Betreiben Selmas ins Kino. Sein Lesen hatte sich auf den Screen reduziert. Nur hin und wieder las er spätabends noch in seinem Sessel, die Füße hochgelegt, die Essais von Montaigne. Nachts, im Sommer auf seiner Terrasse, noch ein Bier oder einen Whisky, das kühle Glas in der Hand, hörte er Gustav Mahler oder Ali Farka Touré oder Manu Katché, der Blick ging über den Zoo und zum Himmel, wo sich der leuchtende Mercedesstern auf dem Europa-Center langsam drehte und ihm das Gefühl gab, teilzuhaben an einer alles umfassenden Dynamik – es war die reine Lust.
    Jetzt war sie, die Lust, verschwunden und mit ihr der Sinn, wie Wasser im Abflussloch der Badewanne, aus der es mit einer kreiselnden Bewegung verschwand. Er hatte sich gefragt, warum er das alles tat, hatte zum Europa-Center hinübergeblickt, diesem spießigen Sechzigerjahrebau mit dem sich monoton drehenden Mercedesstern auf dem Dach, und diese Drehbewegung versetzte ihn in eine Stimmung, die ihm einen faden Geschmack im Mund machte. Er holte sich ein Glas Whisky, und ihm kamen so alberne Einfälle wie Fischer zu werden, wieder Gedichte zu schreiben, eine lange Reise durch Südamerika zu machen. Was er schnell wieder verwarf. Der Wal hatte ihn ausgespuckt. Das war alles. Und zugleich ahnte er, dass auch sie, wenn er sie denn wiedergewönne, ja, es wäre ein Akt der Gnade, ihm nicht helfen könnte. Er genoss dieses Gefühl der Sinnentleerung. Er dachte genau dieses Wort: Sinnentleerung. Es würde ein anderes Wort mit sich bringen: die Suche.

    Er war zu Hause, als die Firma, seine Firma, für die er allein haftete, bankrott ging. Es war, als sei das, was ihm die Kraft gab, zu handeln, zu entscheiden, das Ziel, überhaupt ein Ziel zu verfolgen, als sei diese Kraft abgeschaltet worden. Er war schwach, er wusste, er würde es nicht mehr schaffen. Er war nicht betrunken, konnte aber, als wäre er betrunken, keinen klaren Gedanken fassen. Er hatte das Gefühl, in sich abgestürzt zu sein. Ein Fall, kein Halt. Das Telefon klingelte. Auf dem Display sah er die Nummer Ewalds und hob nicht ab. Der Planer. Dieser hilflose Versuch, ihn von ihr und sich abzurücken. Aber selbst das genoss er, das Gefühl seiner Haltlosigkeit.
    Er saß an seinem Schreibtisch, den er in dem hallenartigen Loft vor einer Wand stehen hatte, er mochte nicht mit einem ablenkenden Ausblick arbeiten, er saß verloren in sich und einer dumpfen Sprachlosigkeit. Durch den Kopf ging ihm dieses und jenes, aber so folgenlos, dass er manchmal lachen musste.
    Es klingelte an der Wohnungstür. Er ließ es klingeln, auch als das einzelne Klingeln zu einem einzigen Klingelsturm anschwoll. Plötzliche Stille. Ein mächtiger Schlag an der Tür und noch ein Schlag, und noch

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