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Vogelweide: Roman (German Edition)

Vogelweide: Roman (German Edition)

Titel: Vogelweide: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Timm
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sollte hier sein, hier, hier, hier.

    Dem englischen Freund hatte er von seiner Unruhe, seiner Gedankenlosigkeit, von seinem Nicht-ein-noch-aus-Wissen, das ihn immer wieder in das um Anna kreisende Denken zwang, erzählt. Und er hatte zu dem Freund gesagt, komme mir nicht mit narzisstisch. Es ist so, ich kann nicht anders.
    Aber der Freund sagte nur: Passion ist keine Entschuldigung, wenn ein Jäger eine Kuh erschießt. Das steht als entlastendes Modell dahinter: Passion schafft sich Handlungsfreiheit, die weder als solche noch in ihren Wirkungen gerechtfertigt werden muss. Aktivität wird als Passivität, Freiheit als Zwang getarnt. Man ist schuldunfähig. Lies mal nach bei Luhmann. Das kann in deiner Situation nicht schaden.
    Und Eschenbach hatte es brav nachgelesen: Man beutet die Semantik der Passivität rhetorisch aus, um die Frau zur Erfüllung anzuhalten: Schließlich hat ihre Schönheit die Liebe verursacht, und der Mann leidet unschuldig, wenn nicht abgeholfen wird.
    Mag ja sein, brüllte er dem Freund nach der Lektüre ins Telefon, aber was hat die Scheiß-Systemtheorie mit meiner Schlaflosigkeit, mit meiner Unruhe, die mich nicht klar denken lässt, zu tun? Mein Leiden und das von Luhmann analysierte Leiden sind zwei verschiedene Systeme. Mein Leiden ist wahr, weil wirklich. Seins ist reflektiert, also abstrakt. Ich habe, verdammt, ein Recht auf mein Leiden.
    Und sie?
    Auch sie.
    Was?
    Sie leidet.
    Ja, sagte er, du weißt, zum Leiden in der Liebe gehört die Komik.

    Ehe war für Anna, so sagte sie, etwas Einmaliges, Verbindliches, ein Gesetz, eine Vereinigung fürs Leben, die man nicht einfach aussetzen und dann wiederholen konnte. Wie aus einer fernen Zeit kam, so schien es ihm, ihr Bild von der Ehe. Und es war ja auch ein Versprechen auf Ordnung und Stabilität, die dem umtriebigen Verlangen Zukunft geben konnte. Zuversicht und Verlässlichkeit für sich und den anderen, ein Blick auf eine dauerhafte Konstruktion, also Vertrauen und Gewissheit, vor allem für die Kinder. Meine Eltern, sagte sie, waren wie zwei Berge, unverrückbar und zusammengehörig, vom Kinderfenster aus zu sehen, nicht sehr hoch waren die Berge, genaugenommen nur Hügel, aber sie waren fest und für immer da. Es waren nicht religiöse Gewissheiten, sie sagte von sich selbst, ich bin eine maßvolle Protestantin, sondern ein Prinzip. Sie hatte es sich schon als Mädchen vorgenommen. Und außerdem, ich bin glücklich verheiratet. Mir fehlt nichts.
    Doch, hatte er abermals gesagt, ich fehle dir. Und du fehlst mir.
    Sie hatte ihn angesehen und leise gesagt: Ja, wahrscheinlich.

    Er hätte es sich selbst nicht zugetraut, derart hartnäckig um eine Frau zu werben. Und sein Drängen, sein Bedrängen Annas, sein ganzes Verhalten war unwürdig, pueril, dieses ferne Wort hatte sich in ihm festgesetzt, eine knäbische Haltung, die ein geradezu niederträchtiges Verhalten gegenüber Selma und Ewald nach sich zog. Denn inzwischen war er auch Ewald nähergekommen und hatte sich eingestehen müssen, dass er gern mit ihm befreundet war oder gewesen wäre. Er war sein Freund. Nein, er war sein Gegner. Von Anfang an, und alles andere waren laue Entschuldigungen. Es hatte Momente gegeben, in denen er dem Planquadrat wie der Nase den Tod wünschte. Er soll sich mit seiner Harley-Davidson den Hals brechen. Er rief sich dann jedes Mal selbst zur Ordnung, sagte mit der inneren Stimme, aber für ihn gut hörbar, was denkst du da für ein abstoßendes Zeugs!
    Er litt unter Kopfschmerzen, eine Stelle links oberhalb des Auges, dort wo, wie er glaubte, das Sprachzentrum lag, in dem auch das Wort Liebe gebildet wurde. Im Genick, im Hals hatte er Verspannungen, die ihn nachts weckten. Er ging zu einer von seinem ehemaligen Partner Fred empfohlenen Thai-Massage. Die junge Thailänderin bot ihm eine Ganzkörpermassage an. Er sagte Nein, das brauche er nicht, aber hier am Kopf, dort, wo irgendwelche Synapsen saßen, die nicht wollten, wie sie sollten, dort solle sie zugreifen. Und sie tat es mit zärtlich zupackenden Händen, schmerzhaft.

    Als er das erste Mal mit Anna in seiner Wohnung zusammen war, sagte sie, sie lagen im Bett: Es ist doch etwas Trauriges, wenn eine Ehe ihre Unschuld verliert.
    Ein Satz, der ihm blieb, an den er oft dachte, ohne jeden Triumph und jedes Mal mit dem Empfinden, es müsste auch seine Trauer sein.

    Es war nicht so, dass er überschuldet war, der Betrieb nicht lief, dass er sich monatelang hätte nachts den Kopf zerbrechen müssen, ob

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