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Vogelweide: Roman (German Edition)

Vogelweide: Roman (German Edition)

Titel: Vogelweide: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Timm
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die geschätzte Katja L.-M. erzählt hatte:
    Nein, nicht die Augen, nicht sein Gesicht, das war keineswegs gleichmäßig, nicht einmal sonderlich einprägsam, es hatte eher etwas gewöhnlich Kräftiges, es war etwas anderes, keineswegs der erste Blick, die Augen.
    Sie war mit dem Mann hinausgefahren auf den See, und er war mit ihr in das Schilf gerudert, wo er eine Mistforke packte und, im Boot stehend, in den Modder des Seegrunds stieß. Nach jedem Zustoßen zog er die Forke aus dem Wasser, und an den Zinken aufgespießt ringelten sich zwei, drei Aale, die er mit Salz bestreute und in eine Aluminium-Kiste warf, ein Brett darauf legte, auf das sie sich setzen musste und damit Komplizin des verbotenen Tuns wurde.
    Es war dieser Anblick, der sie zu dem Mann zog und bei dem sie sofort wusste, dass sie zusammen sein würden. Die gewandten fließenden Bewegungen, die sie an einen Poseidon denken ließen, das Nicht-Zögern, das Zupacken, das Anstechen der Aale, der Griff, der die glitschigen Aale packte und von der Forke zog, eine Tätigkeit, die so selbstverständlich kraftvoll, ja es gab nur ein Wort, natürlich war, dass sie mit ihm zusammen sein wollte. Und so kam es. Fast ein Jahr kam er zu ihr, die in einer Hütte am See lebte.
    Liebe?
    Weiß nicht.
    Und das Ende?
    Undramatisch.
    Stell ich mir so vor, sagte Eschenbach. Sie ist aus der Hütte, in der sie wohnte, aus- und nach Berlin gezogen. Kein Streit. Keine Tränen. Er hat ihr den Koffer zum Bus getragen. Der Bus kam, er drückte sie, fast verging ihr der Atem, dann drehte er sich um und ging. Das Ende von etwas. Etwas, das auf eine wunderbare Weise einfach war, etwas, das sich all den Überlegungen, den Zögerlichkeiten, Bedenken entzog, etwas, das nach dem roch, was es war. Das schöne deutsche Wort Ursprung. Das Einfache. Ein Vorgriff vielleicht.
    Vorgriff worauf?
    Das Glück des Körpers.

    Drei Tage, bevor er zur Insel aufgebrochen war, wartete auf dem Treppenabsatz Nichts-für-Ungut und fragte, ob er die Schießerei gehört habe. Ich bin vor Schreck fast aus dem Bett gefallen. Gegen Mitternacht habe es geknallt. Mehrmals. Pistolenschüsse und, wie sich später gezeigt habe, eine Maschinenpistole. Muss direkt vor dem kleinen türkischen Bordell gewesen sein. Gegenüber. Vor dreißig Jahren war da ein Milchgeschäft drin. Die Leute kamen aus Ostpreußen. Aus Johannesburg. Müssen Sie sich vorstellen. Sind mit dem Pferd und einem Wagen, mit dem sie die Milch ausfuhren, tausend Kilometer hierhergefahren. Haben so ein kleines Milchgeschäft aufgemacht. Und nebenan gab’s den Kolonialwarenladen. Auch weg. Daneben der Friseur. Weg. Die Drogerie. Weg. Alles weg. Jetzt der Dönerladen und das Internetcafé. Und dieser Türkenpuff. Darum vielleicht die Schießerei. Bei dem Perser oben, also genau gegenüber von Ihnen, haben sie zwei Projektile in der Zimmerdecke gefunden. Polizei war schon da. Haben auch den Perser verhört. Diesen Exilperser. Vielleicht hat’s dem gegolten. Oder Ihnen. Dachten, Sie wohnen nach vorn. Na ja. Nichts für ungut.
    Eine junge Frau kam die Treppe hoch, an der Hand die kleine Tochter, die leise vor sich hinschluchzte, ein Schluchzen, in dem der Kummer der Welt lag. In der anderen Hand trug die Frau ein vollgepacktes Einkaufsnetz. Sie grüßte, schloss die Tür auf und verschwand.
    Das Wort Einkaufsnetz verliert sich mit dem Gegenstand, dachte er, so wie mit der Plastiktüte ein neues, in meiner Kindheit noch unbekanntes Wort aufgekommen ist.

    Nach dem Abendbrot, Brot, Butter, Käse und zwei Tomaten, hatte er sich einen Pullover und eine Windjacke angezogen und war hinaus- und hinuntergegangen. Der Himmel war klar. In der Ferne über dem Meer im Licht des Monds zogen ein paar zerfranste Wolken. Das weiße Licht ließ die leichten Bodenwellen des Meeresgrunds mit dem in den Mulden noch stehenden Wasser wie einen blinden Spiegel erscheinen. Er blickte zu der Insel Neuwerk hinüber. Der ruhige Lichtstrahl des Leuchtturms wies den Weg in die Elbmündung.
    Freute er sich auf ihr Kommen? Ja, aber es war eine Freude, die, das war ihr beigegeben, Enttäuschung fürchtete.
    Er ging zu dem Priel, in dem das Wasser ihm bis zu den Waden stand, und stampfte im Schlick herum. Es dauerte lange, bis eine Scholle sprang und er sie mit den Händen greifen konnte. Eine zweite wollte sich, auch nach langem Treten, nicht finden. Damals, vor vierzig Jahren, war das Watt weit belebter gewesen, Krebse, Seesterne, Plattfische. Damals war dem Schulfreund bei einer

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