Vogelweide: Roman (German Edition)
sich aufgemacht und dem Obelix bei der Arbeit zugesehen. Er zeigte keinen der raffinierten Zaubertricks, bei denen man sich nicht erklären kann, wie die Rasierklingen in den Mund gekommen sind, die jetzt an einem Faden eine nach der anderen wieder herausgezogen werden. Obelix machte das Einfachste. Die Kinder waren begeistert, wenn er einem Mutigen die Nase wegzauberte, um sie als Daumen durch die Finger blicken zu lassen und sie dann wieder anzusetzen.
Es war ein für diese Gegend recht normales mehrstöckiges Haus, zu den Bewohnern gehörten auch zwei türkische Familien, deren Schuhe, Kinder- wie Erwachsenenschuhe, vor den Wohnungstüren standen, aufgereiht nach Größe. Vor den Türen lagen Fußabtreter, der eine zeigte einen Dackel, auf dem anderen stand: My home is my castle . Der Mann in dem Castle war Schlosser gewesen, fuhr jetzt Taxi für eine Firma, die einem Libanesen gehörte, von der Nichts-für-Ungut behauptete, es sei ein Geldwäsche-Unternehmen. Die Frau sprach kein Deutsch. Nickte zur Begrüßung mit dem Kopf und watschelte vorbei. Die Tochter besuchte das Gymnasium, ohne Kopftuch.
Zuweilen wunderte sich Eschenbach darüber, dass er erst bankrottgehen musste, um diese Menschen kennenzulernen. Früher hatte er sie, da er meist mit dem Auto oder seinem Rennrad fuhr, nicht einmal in der U-Bahn oder im Bus gesehen.
Er hatte, die Wolken hingen jetzt tief und grau am Himmel, in der hereinbrechenden Dunkelheit vor der Hütte auf der Veranda gesessen und war später an den Schreibtisch gegangen, hatte die Daten in das Insel-Journal eingetragen: Temperatur, Windgeschwindigkeit, Zählung der Rastvögel, Bewölkung, der Falke, die Jacht, die aufgelaufen war, ein idiotischer Sonntagssegler, der unter Motor gefahren war und später von einem Fischerboot frei geschleppt werden musste. Er hoffte, dass der Fischer dem Jachtbesitzer ordentlich Geld abgeknöpft und es nicht als Hilfe in der christlichen Seefahrt kostenlos gemacht hatte. Aber seine Hoffnung gehörte nicht in das Inseltagebuch.
Der Gesprächsverlauf der Befragungen folgte in den meisten Fällen einem Muster. Der glückliche Augenblick, im Gedächtnis aufgerufen, wurde ausführlich beschrieben, wortreich, in Parataxe, und endete dann in Ellipsen, Numeralien, Interjektionen, Kopfschütteln, Schweigen.
Der Abschwung war aufgezeichnet, da waren Pausen, Verzögerungslaute, das plötzliche Verstummen, ein betont künstliches Auflachen.
Aber es gab auch die Berichte, die einmündeten in eine Geschichte der Gemeinsamkeit, von Dauer, von verständnisvollem Zusammenleben. Ehen – und er kannte die Protagonisten –, die schon dreißig, vierzig Jahre hielten und gut waren. Allerdings waren es nur wenige Beispiele. Eine Statistik für eine Nähe ohne Hass, Verachtung oder Überdruss gab es nicht.
Die wäre auch nur schwer zu erstellen, hatte er der Norne gesagt.
Aber möglich! Das ist unser Ziel. Das Glück zu erreichen. Ich war zweimal verheiratet, glücklich.
Ich nur einmal, sagte er.
Und glücklich?
Vielleicht drei Jahre. Dann kannten wir uns. Kann man darüber noch glücklich sein?
Eschenbach saß in der Hütte, schnitt einen Apfel in kleine Schiffchen, wie es seine Mutter früher getan hatte, sah die dunklen Kerne und dachte: Apfelgrütz, was für ein seltsames Wort. Noch war im Westen der Horizont zu sehen, während der Osten im Dunkeln lag, fern die wenigen Lichter auf der Insel Neuwerk und das Leuchtfeuer. Drei Signale in Weiß, Rot, Grün.
Das Überraschende war, dass Selma, die sich nie von ihm hatte einladen lassen wollen, sich nur einmal ein Seidenkleid hatte schenken lassen, ihm aber sogleich mit dem Anziehen und wieder Ausziehen des Kleids ein Gegengeschenk gemacht hatte, sie, die so strikt darauf achtete, alles selbst zu bezahlen und, was sie nicht bezahlen konnte, nicht haben wollte, nicht mal geschenkt, während sie ihm jeden Wunsch erfüllte, Wünsche, die man nicht kaufen konnte, dass diese Selma jetzt mit Ewald herumreiste, dass sie, die nicht endgültig zu ihm hatte ziehen wollen, was er ihr allerdings auch nicht ernsthaft angeboten hatte, zu Ewald gezogen war.
Und auf die Frage, warum sie das alles so selbstverständlich entgegennahm, aber sich nichts von ihm hatte schenken lassen, sagte sie mit dem weichen polnischen Anklang: Weil du von mir dir kein Kind hast schenken lassen wollen.
Wie kompliziert dieser Satz war und das, was er bedeutete.
Eines seiner Lieblingsinterviews war die Geschichte vom Aale-Stechen, die ihm
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