Vogelwild
vernünftig.«
»Tut mir leid«, grummelte Morgenstern leise und begann
nachzudenken. Dann holte er aus der Speisekammer eine zweite Flasche Wein,
entkorkte sie und schenkte sich und Fiona die leeren Gläser voll. »Überzeugt
muss er sein …«, wiederholte er ihre Worte. »Ein Überzeugungstäter. Jemand, dem
es nicht ums Geld geht, sondern um die Sache. Um seine Sache. Das könnte
tatsächlich ein Ansatz sein, Fiona, aber ich weiß beim besten Willen nicht, um
wen es sich da handeln könnte.«
Gedankenversunken blickte Morgenstern auf die Dächer
der Stadt, die in der einsetzenden Dämmerung miteinander zu verschmelzen
schienen. Eine große Fledermaus jagte im lautlosen Zickzackkurs zwischen den
Häusern nach Nachtfaltern. Sie hatte die lärmenden Schwalben und Mauersegler
abgelöst, die noch bis vor einer halben Stunde in atemberaubender
Geschwindigkeit und mit schrillen Schreien die Gebäude umrundet hatten.
Morgenstern hatte sich nie besonders für Biologie oder Naturkunde interessiert,
aber die vergangenen Tage hatten in ihm, dem alten Museumsmuffel, eine bisher
unbekannte Neugier geweckt. Wer war der bessere Flieger? Die Schwalbe mit ihren
gefiederten Flügeln oder die Fledermaus mit ihren Spannhäuten? Wer von beiden
hatte das erfolgreichere Konzept? Würden die Fledermäuse eines fernen Tages von
den Vögeln verdrängt und als sonderbares Auslaufmodell der Evolution, als
verzichtbare Laune einer Natur, die fliegende Säugetiere nicht mehr für nötig
erachtete, in die Geschichte eingehen? Würde sie das gleiche Schicksal ereilen
wie vor Jahrmillionen schon die Flugsaurier? Auch sie waren immerhin von den
Vögeln verdrängt worden. Er wollte Fiona an seinen Gedanken teilhaben lassen
und setzte zum Sprechen an, aber das Einzige, was er letztlich herausbrachte,
war: »Echt ein Hammer, wie die Viecher fliegen!«
Fiona nickte still, und Morgenstern war sicher, dass
sie alles verstanden hatte. Wenig später stand sie auf und ging nach drinnen,
um sich schlafen zu legen. Morgenstern aber blieb noch lange draußen sitzen,
trank die zweite Flasche leer und grübelte über den ewigen Traum der Menschen,
sich über die Erde zu erheben und zu fliegen. Als er schließlich zu Fiona unter
die Bettdecke schlüpfte, summte er Reinhard Meys Ohrwurm »Über den Wolken muss
die Freiheit wohl grenzenlos sein«.
Fiona murmelte schlaftrunken: »Ich glaube, wir müssen
mal über unseren Alkoholkonsum nachdenken.«
ZEHN
In Morgensterns Traum klingelte es. Es
klingelte wieder und wieder und wollte nicht enden. Grunzend richtete sich der
Kommissar im Bett auf. Draußen war der Tag bereits erwacht, und Hunderte von
Vögeln brüllten sich in den Bäumen ein vergnügtes »Guten Morgen« zu. Doch
zwischen all dem schier ohrenbetäubenden Gezwitscher läutete klar und deutlich
im Flur das Telefon. Kein Traum also. Morgenstern fixierte die Zeiger des
Weckers. Kurz nach vier Uhr. Er stöhnte. Wer um alles in der Welt rief um diese
irrwitzige Uhrzeit an? Die Polizeizentrale konnte es nicht sein, die alarmierte
Morgenstern im Ernstfall grundsätzlich nur über sein Handy.
Verwählt, du Depp!, ärgerte sich der Kommissar und zog
sich die Bettdecke wieder über den Kopf. Doch das Läuten, nun nur noch gedämpft
wahrnehmbar, verstummte nicht. Das musste doch jetzt schon mindestens zwei
Minuten so gehen. Vielleicht ein Klingelstreich eines Betrunkenen, der sich
einen Spaß daraus machte, Menschen zu wecken, die sich ihren Schlaf redlich
verdient hatten? Eine solche Hartnäckigkeit war Morgenstern in seinem ganzen
Leben noch nicht untergekommen. Er setzte sich erneut auf. »Fiona, das
Telefon!«, sagte er, aber seine Frau blinzelte ihn nur ungläubig an.
»Dann geh halt ran, wenn es dich so stört!« Im
Hinausgehen konnte er noch hören, wie sie ihm genervt nachrief: »Männer!«
Mit allem Verdruss, den er nur irgendwie in seine
Stimme legen konnte, bellte Morgenstern in den Hörer: »Sagen Sie mal, wissen
Sie eigentlich, wie spät es ist?«
»Endlich, Herr Morgenstern! Hier ist Ali Akatoblu. Sie
müssen mir helfen!«
Also hatte es sich doch gelohnt, dass Morgenstern
seine Telefonnummer in der Eichendorffstraße zurückgelassen hatte. Wie sich
herausstellte, hatte sich Akatoblu am Abend telefonisch bei seiner Nachbarin
Rosa Aurich gemeldet und war von ihr umfassend über die unerfreulichen
Neuigkeiten informiert worden. Dass seine Wohnung auf den Kopf gestellt worden
war und die Eindringlinge auch offenbar gefunden hatten, wonach sie
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