Volk der Finsternis - Horrorgeschichten (H. P. Lovecrafts Bibliothek des Schreckens) (German Edition)
vorbeihuschen gesehen zu haben, kurz bevor das Licht in der Hütte erloschen war. War da nicht etwas Abnormes, Unmenschliches an diesem Wesen gewesen, etwas seltsam Verzerrtes, das nichts mit dem finsteren Lampenlicht und den Schatten zu tun hatte? Als wolle er sich an die Einzelheiten eines Albtraumes erinnern, versuchte Steve, seine Gedanken zu sortieren und sich zu erklären, weshalb dieser flüchtige Blick ihn so aus der Fassung gebracht hatte, dass er kopfüber gegen einen Baum gekracht war, und weshalb ihm allein bei der vagen Erinnerung daran der kalte Schweiß ausbrach.
Erneut verfluchte er sich, so als wolle er sich Mut zusprechen, dann zündete er die Laterne an, blies die Lampe auf dem alten Tisch aus und machte sich entschlossen auf den Weg, die Hacke wie eine Waffe fest in seiner Hand. Weshalb sollten ihn einige unnormal erscheinende Umstände eines schäbigen Mordes überhaupt aus der Ruhe bringen? Solche Verbrechen waren entsetzlich, aber nicht ungewöhnlich – vor allem nicht unter Mexikanern, die eine Schwäche für unausgefochtene Fehden hatten.
Als er wieder in die stille, sternenreiche Nacht hinaustrat, ließ ihn plötzlich etwas innehalten. Von der anderen Seite des Baches erklang das markerschütternde Gebrüll eines Pferdes in Todesangst, dem das wilde Donnern von Hufen folgte, das in der Ferne verhallte. Brill stieß wütende, kräftige Flüche aus. Lauerte in den Hügeln etwa ein Panther? Hatte eine mächtige Raubkatze den alten Lopez getötet? Aber weshalb zeigte das Opfer dann keine Spuren ihrer schrecklichen, gekrümmten Krallen? Und wer hatte das Licht in der Hütte gelöscht?
Während er sich diese Fragen stellte, rannte Brill flink in Richtung des dunklen Baches. Ein Cowboy nimmt es niemals auf die leichte Schulter, wenn sein Vieh in Panik versetzt wird. Als er in der Dunkelheit am Ufer des ausgetrockneten Baches durch die Büsche lief, bemerkte er, dass sich sein Mund seltsam trocken anfühlte. Er musste immer wieder schlucken und hielt die Laterne noch etwas höher. Ihr Lichtschein konnte nur wenig gegen die Finsternis ausrichten, schien die schwarzen Formen der drängenden Schatten ringsum aber noch deutlicher zu machen. Aus irgendeinem unerfindlichen Grund kam Brill in diesem Moment der wirre Gedanke, dass dieses Land für die Engländer zwar noch recht neu, in Wahrheit aber schon unglaublich alt war. Das aufgebrochene, entweihte Grab war ein stummer Beweis dafür, dass die Menschen dieses Land schon seit langer Zeit kannten, und mit einem Mal drückten die Nacht, die Hügel und die Schatten mit der gesamten Last ihres entsetzlichen Alters auf Brill. Generationen von Menschen hatten hier gelebt und waren hier gestorben, lange bevor Brills Vorfahren je von diesem Land gehört hatten. In der Nacht, im Dunkel entlang dieses Baches, hatten ohne Zweifel bereits zahllose Menschen auf schreckliche Weise ihren Geist ausgehaucht. Mit diesen finsteren Gedanken hastete Brill durch die Schatten der dichten Bäume.
Er atmete erleichtert aus, als er auf seiner Seite des Baches wieder zwischen den Bäumen hervortrat. Er eilte den sanften Hang zur eingezäunten Koppel hinauf, hielt die Laterne in die Höhe und blickte sich suchend um. Die Koppel war leer; nicht einmal die faule Kuh war zu sehen. Das Gatter stand offen, was auf menschliches Tun hindeutete und der Angelegenheit einen neuen, düsteren Aspekt verlieh. Irgendjemand wollte offensichtlich verhindern, dass Brill heute Nacht nach Coyote Wells ritt. Das konnte nur bedeuten, dass der Mörder auf der Flucht war und sich einen ordentlichen Vorsprung vor dem Gesetz verschaffen wollte, oder … Brill lächelte gequält. Er bildete sich ein, aus weiter Ferne hinter der Ebene mit den Mesquitebäumen noch immer das Trampeln rennender Hufe hören zu können. Was, in Gottes Namen, hatte den Tieren solche Angst eingejagt? Auch jetzt legte sich ein kalter Finger der Angst auf Brills Wirbelsäule und ließ ihn erschaudern.
Steve ging zu seiner Hütte zurück, hatte jedoch nicht den Mut, sofort einzutreten. Er schlich in weitem Bogen um den Schuppen, blickte zitternd in die dunklen Fenster und horchte mit schmerzhafter Anspannung, um auch jedes Geräusch zu hören, mit dem sich der Mörder verraten konnte, der vielleicht im Inneren lauerte. Schließlich fasste er Mut und beschloss, die Tür zu öffnen und einzutreten. Er stieß sie so heftig auf, dass sie gegen die Wand knallte, weil er feststellen wollte, ob sich jemand dahinter versteckte. Mit
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