Volk der Finsternis - Horrorgeschichten (H. P. Lovecrafts Bibliothek des Schreckens) (German Edition)
Fesseln, die für den trüben Glanz in den Augen des Arabers verantwortlich waren. Einem schwächeren Mann als McGrath wäre beim Anblick der Verstümmelungen am Körper des Mannes, die von scharfen Messern stammten, möglicherweise übel geworden. McGrath erkannte darin das Werk eines wahren Experten in der Kunst des Folterns, und dennoch durchzuckte den starken Körper des Arabers noch ein letzter Hauch von Leben. McGraths graue Augen verfinsterten sich, als er den gefesselten Körper des Opfers genauer betrachtete, und seine Gedanken flogen zurück zu einem anderen, noch finstereren Urwald, in dem ein schwarzer Mann mit halb abgezogener Haut an einem Pfahl hing, wo er jedem weißen Mann als Warnung dienen sollte, der es wagte, in ein verbotenes Land einzudringen.
Er durchschnitt die Seile und legte den sterbenden Mann in eine bequemere Position. Es war alles, was er tun konnte. Er sah, wie der Glanz des Fieberwahns für einen Moment aus den blutunterlaufenen Augen wich und Erkenntnis darin aufflammte. Tropfen blutigen Schaums spritzten auf den verfilzten Bart des Arabers. Seine Lippen verzogen sich lautlos, und McGrath erkannte den blutigen Stummel einer abgetrennten Zunge.
Seine Finger, deren Nägel völlig schwarz waren, begannen, im Dreck zu kratzen. Sie zitterten, versuchten verbissen, aber beharrlich, etwas in die Erde zu kritzeln. McGrath beugte sich voll neugieriger Anspannung tief hinunter und erkannte krumme Linien unter den zitternden Fingern. Mit einer letzten Anstrengung und eisernem Willen hinterließ der Araber eine Nachricht in seiner Muttersprache. McGrath erkannte einen Namen: »Richard Ballville«; danach folgte das Wort »Gefahr«, dann winkte der Mann mit schwacher Hand in Richtung des Weges, und dann – und nun spannten sich sämtliche Muskeln in McGraths Körper an – »Constance.« In einem letzten Versuch schrieb der geschwächte Finger »John De Al–« Dann erfasste ein letzter qualvoller Krampf den blutüberströmten Körper; die schmale, sehnige Hand wurde von Krämpfen durchzuckt und fiel schließlich schlaff zu Boden. Achmed ibn Suleyman war nun jenseits von Rache oder Gnade.
McGrath erhob sich und klopfte sich den Dreck von den Händen. Er war sich der angespannten Stille des finsteren Waldes zutiefst bewusst, aus dessen Tiefe nun ein sanftes Rascheln zu ihm drang, das jedoch nicht vom Wind verursacht wurde. Mit unfreiwilligem Mitleid blickte er zu der verstümmelten Gestalt hinab, denn er wusste nur zu gut, wie verdorben das Herz des Arabers gewesen war – ebenso schwarz und böse wie das Herz von Achmeds Herrn, Richard Ballville. Es schien wohl so, als hätten Herr und Diener trotz all ihrer menschlichen Boshaftigkeit letztlich doch noch ihren Meister gefunden. Doch wer war es? Oder was?
Über hundert Jahre hatten die Ballvilles unangefochten über diese abgelegene Gegend geherrscht. Zunächst hielten sie auf ihren weitläufigen Plantagen Hunderte von Sklaven, später herrschten sie auch über die unterwürfigen Nachkommen dieser Sklaven. Richard, der letzte der Ballvilles, regierte mit derselben Autorität über das Reich der Kiefernwälder, wie seine autokratischen Vorfahren es einst getan hatten. Und doch war der verzweifelte Angstschrei, der McGrath in Form eines Telegramms erreicht hatte, das er nun wieder fest in seiner Manteltasche umfasst hielt, aus eben dieser Gegend gekommen, in der sich die Menschen seit einem Jahrhundert vor den Ballvilles verneigten.
Auf das Rascheln folgte wieder Stille, die unheimlicher war als jedes Geräusch. McGrath wusste, dass er beobachtet wurde; er wusste, dass die Stelle, an der Achmeds Leiche lag, eine unsichtbare Linie für ihn markierte, die er nicht überschreiten durfte. Er glaubte, dass man ihn bis zu dieser Linie umkehren lassen würde, sodass er unbehelligt in das entfernte Dorf zurückgehen könnte. Er wusste auch, dass ihn, wenn er weiterging, ein schneller, unsichtbarer Tod ereilen würde. Er drehte sich um und schritt auf demselben Weg zurück, auf dem er gekommen war.
Er ließ die Wegbiegung hinter sich und ging immer weiter, bis der Pfad eine weitere Kurve machte. Dort hielt er an und horchte. Alles war still. Hastig zog er das Papier aus der Tasche, strich die Falten glatt und las erneut das Telegramm des Mannes, den er mehr hasste als alles andere auf der Welt:
Bristol:
Wenn Du Constance Brand noch immer liebst, dann vergiss um Gottes willen Deinen Hass und komm’ so schnell nach Ballville Manor, als sei der Teufel
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