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Volk der Verbannten

Titel: Volk der Verbannten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ange Guéro
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»Du würdest unter der Folter alles Mögliche tun - wie jeder. Aber das ist nicht das Problem. Wenn ich dich zwingen würde, sie zu verraten, würdest du eine sehr schlechte Verräterin abgeben, da es gerade deine Aufrichtigkeit ist, die mich interessiert. Du wirst Ayesha eine Botschaft bringen. Die Botschaft wird aus zweierlei bestehen: aus einem von mir geschriebenen und eigenhändig unterzeichneten Brief und aus dir. Aus deinem Zeugnis. Du wirst sagen, dass du mich getroffen hast, was ich dir gesagt habe, was ich mit dir getan habe. Ich habe kein Siegel - warum sollte sie Unbekannten glauben, die behaupten, von mir zu kommen? Das könnte eine Falle sein. Dir aber wird sie glauben.«
    »Was werdet Ihr ihr sagen?« Non’iama biss sich auf die Lippen und bedauerte ihre Frage.
    Aber der König wirkte nicht gekränkt. Er schob den Dolch wieder in den Gürtel und setzte sich an den Schreibtisch. »Ich benutze Papier aus Reynes«, sagte er und zog ein Blatt aus einer Rolle hervor. »Ayesha soll keine Verschwörung dahinter vermuten - ich habe mir nur einiges davon mitgebracht, als ich nach Hause zurückgekehrt
bin, um den Platz meines Vaters einzunehmen.« Er tunkte seine Feder ins Tintenfass und begann zu schreiben. »Was werde ich ihr sagen? Nun, ich werde ihr natürlich ein Bündnis vorschlagen. Ich werde ihr vorschlagen, mir zu helfen, Reynes zu zerstören.«
    Der Satz hing einen Moment lang in der Luft; er klang im Zelt nicht lauter als das Kratzen der Feder über das Papier.
    Reynes zu zerstören .
    Non’iama wurde schwindlig. Sie hatte lange gestanden und seit dem Vorabend nichts mehr gegessen.
    Reynes.
    Sie konnte vielleicht nicht lesen und schreiben, aber es gab manche Dinge - wie die Göttersagen, die Legenden, die Geschichten, die Religion und die Gesetze -, die man nicht erst lernen musste. Man wusste einfach darum. Von einem gewissen Alter an kannte man sie, weil sie in der Luft lagen, die man atmete, die Sätze durchzogen, die man hörte. Sie lasteten auf Gesprächen, auf der ganzen Gesellschaft. Reynes . Auch wenn Non’iama nie auch nur in die Nähe der Stadt gelangt war und sicher auch nie dorthin kommen würde, wusste sie, wie mächtig und bedeutend Reynes war.
    Und plötzlich hatte sie eine Vision - ihre erste Hâman-Vision, ihre erste Vision als Zauberpriesterin der Ayesha. Die Bilder und die Anspannung der letzten Tage, der Hunger, die Übermüdung - alles vermischte sich, und sie sah es: das Feuer, die brennenden Leichen, die sich wie ein Lavastrom über Täler, Städte, Landstraßen und Dörfer ergossen … Die Gesichter von Nordos, Brus und Nôs verschwammen, vermischten sich mit denen der Reiter bei den Zelten, mit den fettigen, blutigen Lippen
des Mannes, der in sein Kaninchen gebissen hatte, als er ihr beim Feuer begegnet war. Ihr Atem wurde keuchend, ihre Augen brannten, alles drehte sich in ihrem Kopf, und als sie sprach, war sie nicht mehr ganz sie selbst.
    » Nein .«
    Der König der Sakâs legte seine Feder hin und drehte sich dann um. Er hatte die Veränderung in ihrem Tonfall und im Klang ihrer Stimme gehört.
    Er musterte Non’iama, und das kleine Mädchen trat einen Schritt auf ihn zu und fühlte sich von einer besonderen Kraft getragen: der Kraft des Blaus, das sie auf dem Gesicht trug, der Kraft der Raubkatzen. Ayeshas Kraft.
    »Nein. Das dürft Ihr nicht. Reynes darf nicht fallen«, sagte sie mit Worten, die nicht ganz die ihren waren. Aber vielleicht hatte sie sie einst gehört, in Gedichten oder Erzählungen? »Die Stadt wird nicht fallen.«
    Kurz herrschte Schweigen im Zelt, während der König sie musterte. »Also spielst du schließlich doch noch die Hâman, Kleine. Wenn das nicht nur eine geschickte Verstellung ist … Gut. Ist das ein Befehl oder eine Prophezeiung? Ich halte nicht viel von Befehlen.«
    »Ihr werdet sterben«, sagte Non’iama, aber sie spürte, wie die Kraft und die Vision sie verließen.
    Der König sah sie mit seinem durchdringenden, ironischen Blick an, und sie spürte, wie eine Woge des Hasses sie übermannte. Sie konnte und wollte jetzt nicht schweigen, sie wollte ihm etwas ins Gesicht schleudern, ganz gleich, welche Folgen das haben würde. »Ihr werdet sterben«, stieß sie rasch hervor, nur noch von Zorn und dem Wunsch getrieben, ihm wehzutun. »Ihr werdet sterben! Ein Stein wird Euch den Kopf zerschmettern, und Euer Blut wird den Boden beflecken! Ihr werdet vor Schmerz
schreien, und Eure Feinde werden lachen. Bei der Macht Ayeshas - sie werden

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