Volk der Verbannten
Krieger und machte eine gleichgültige Kopfbewegung zu den Pferden hinüber. »Wir reiten bald los. Beruhigt Euch …«
Zwei Stunden später näherten sie sich endlich der Zitadelle, deren hohe, graue Mauern vom Licht der Monde erhellt wurden. Die Reiter schienen ein boshaftes Vergnügen daran gefunden zu haben, sich nicht zu beeilen, und hatten die Pferde das letzte Drittel des Weges im Schritt gehen lassen, hatten in der duftenden Nachtluft
geplaudert und gescherzt. Lionor hatte geschrien und protestiert, gefleht und gebettelt, bevor sie in stumme Verzweiflung verfallen war, in eine erschöpfte Starre.
Arekh war nahe daran, jemanden zu töten.
Nur Lionors Gegenwart hielt ihn davon ab. Sein Zorn war so heftig und kalt, dass er ihm wie ein ausgehungertes Tier die Gedärme zerfraß. Er fühlte sich bereit, jede Zurückhaltung fahren zu lassen und ein Massaker anzurichten, ein sinnloses, brutales Massaker. Hass und Bitterkeit hinterließen einen schalen Geschmack in seinem Mund. Seine Hände zitterten noch immer, bereit, zuzuschlagen, zu erwürgen, zu zerfetzen. Lionor und das Kind hatten die Seelenleser, die Folter und die Verfolgung überlebt. Es war ein Wunder, dass sie noch am Leben waren, ein Wunder, an dem er mitgewirkt hatte, und der dünne Lebensfaden dieses so zerbrechlichen Kindes neben ihm würde nun reißen, weil eine Bande von Schwachköpfen nicht auf ihn hören wollte.
Die Pferde kamen im Park hinter der Burg zum Stehen. Im fahlen Mondlicht wirkte die Umgebung unwirklich. Männer eilten geschäftig zwischen Säulen und kleinen Zierpavillons umher. Die Pferde wurden zwischen Beeten an geschmückte Rankgitter gebunden, an denen Rosen wuchsen. Etwas weiter entfernt zog sich jenseits einer Mauer das Lager am Hügel entlang: Hunderte, ja Tausende von Zelten, die des Ayesha-Volks … Ihre dreieckige Form war im Dunkeln kaum zu sehen, wenn nicht gerade ein Windstoß Flammen aus der ersterbenden Glut der Feuerstellen emporzüngeln ließ.
Der Abhang führte bis zu einem breiten Fluss, auf dem Schiffe und Boote lagen, die das Wappen der Verbannten trugen.
Sobald Day-Yan seinen Männern bedeutet hatte, haltzumachen, sprang Arekh vom Pferd und wollte zu Lionor eilen, aber zwei Männer hielten ihn zurück.
»Lasst mich durch«, knurrte Arekh. »Wir müssen sie zu Ayesha bringen, damit sie den Befehl gibt, dass …«
»Ruhe!«, sagte Day-Yan eisig. »Wir werden erst einmal feststellen, ob sie euch empfangen kann.« Er gab ein Zeichen, und drei Männer umringten sie. »Führt sie in den kleinen Pavillon.«
Sie gingen los. Lionor stolperte verstört vorwärts. Arekh nahm ihren Arm, um sie zu stützen, und streifte den Hals des Kindes. Er spürte einen schwachen Puls.
Der kleine Pavillon lag am Übergang vom Park zu einer Terrasse aus behauenem Stein. Lionor ließ sich mit aschfahlem Gesicht auf eine Bank fallen. Arekh beharrte, verlangte, zu Ayesha geführt zu werden, aber zwei Soldaten entfernten sich. Der dritte blieb, lehnte sich an eine Wand, ignorierte Arekhs Bitten und beobachtete Lionor und ihn mit leerem Blick.
Sie warteten.
Einen Moment später kehrte einer der Soldaten zurück und flüsterte dem Wächter etwas ins Ohr, der daraufhin leise lachte.
Dann entfernte der andere Soldat sich wieder.
Der erste Soldat rührte sich nicht.
Arekh kniete sich neben Lionor und legte dem Kind noch einmal den Finger an den Hals. Er stand wieder auf und trat mit gefährlichem Blick auf den Mann zu.
»Ayesha …«
»Sie schläft«, sagte der Krieger und zuckte die Schultern.
Arekh erstarrte und musterte ihn. »Nun gut, dann
weckt sie«, sagte er schließlich; seine Kehle war zugeschnürt, so dass er kaum sprechen konnte.
Der Mann lachte erneut leise. »Sie schläft «, wiederholte er, als ob Arekhs Bitte keinen Sinn ergeben würde. Dann wandte er sich ab und lehnte sich wieder an seine Mauer.
»Arekh.«
Lionors Stimme. Arekh drehte sich um.
Die junge Frau saß sehr aufrecht da. »Er ist tot«, sagte sie schlicht.
Keine Tränen. Kein Geschrei. Lionors Blick war leer. Sie musterte Arekh einen Moment lang und sah dann auf ihren Sohn hinab.
Arekh richtete sich auf und lief auf den Hof hinaus. »Marikani?«, schrie er und wusste nicht, warum er rief.
Es war zu spät, aber Hass und Schmerz krampften ihm den Magen zusammen, und er konnte einfach nur vorwärtslaufen. Geradeaus, mit starrem Blick, von der Wut getragen.
Der Soldat wollte sich ihm in den Weg stellen, und Arekh schlug ihn mit aller Kraft, mit
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