Volk der Verbannten
tot? Dann bin ich wohl schlecht informiert gewesen.«
Arekh war sich einen Moment lang nicht sicher, ob er lieber sie oder den Mann erwürgen oder einen Stuhl nehmen und ihn am Tisch, auf dem Boden oder an den Wänden zerschlagen sollte … Vielleicht empfahl es sich auch, alle Stühle zu zerschlagen, bis er sich besser fühlte.
Marikani trat mit mordlüsternem Blick auf ihn zu und ohrfeigte Arekh ihrerseits - bevor sie noch näher kam, sehr nahe, zu nahe, bis ihre Lippen beinahe sein Ohr berührten. »Tu das noch einmal, dann lasse ich dich steinigen«, flüsterte sie in eisigem Ton. Sie warf einen Blick zu Bara hinüber, der zwei Schritte zurückwich. »Ich weiß nicht, was du dir gedacht hast, Arekh«, fuhr sie leise fort. »Ich weiß nicht, was ich mir gedacht habe. Dass du … dass die anderen sich in dir getäuscht hätten.
Jetzt sehe ich, dass dem nicht so war.« Sie deutete auf ihre Lippe und fügte schlicht hinzu: »Jetzt ist mir alles klar. Und ich weiß eines: Du wirst mich nie berühren. Niemals.«
Arekh beschränkte sich darauf, sie zu mustern, und wies dann, ohne den Blick abzuwenden, auf die Tür. »Lionor ist da draußen. Ihr Kind ist tot.«
Marikani zuckte zusammen, öffnete den Mund und wurde blass. »Bei den Göttern«, flüsterte sie, und Tränen schossen ihr in die Augen. »Lionor …«
Sie lief aus dem Zimmer, während Bara weiter Arekh anstarrte. Wenn Blicke töten könnten, wäre Arekh auf der Stelle tot umgefallen, aber das war ihm gleichgültig.
Er verließ den Raum langsam, ohne zu wissen, wohin er ging … Auf den Gängen begegnete er Soldaten und Verbannten, die ihn überrascht musterten. Die Bilder des Abends wirbelten in seinem Verstand durcheinander: das Gesicht des kleinen Leichnams, das Blut auf Marikanis Lippe, Lionors blutleere Züge.
Er ging ins Freie, sog die frische Luft ein. Die Bäume und Säulen verschwammen ihm vor den Augen; er hatte fürchterliche Kopfschmerzen. Warum sah er nicht mehr klar? So kräftig war Marikanis Ohrfeige nun auch wieder nicht gewesen …
Er ging weiter, einfach geradeaus, ohne Ziel. Er sah die Festungsmauern wie im Nebel vor sich aufragen, er würde einfach weitergehen, geradeaus, durch eines der Tore, und dann über die Pfade, die ihn in die Hügel führen würden, ins hohe Gras, wo er sich verlaufen und dann verschwinden würde. Fort, weit fort …
Der Bogen des Nordtors öffnete sich vor ihm im Mauerring: Jenseits davon erstreckte sich eine gewundene
Landstraße, die sich in der silbrigen Landschaft verlor. Arekh trat auf das Tor zu und blinzelte dann.
Da war jemand auf der Straße: eine zierliche Gestalt, die langsam auf die Zitadelle zuschritt. Auf ihn. Arekh stutzte, glaubte, in diesem grauen Nebel ein Gespenst vor sich zu sehen, aber die Umrisse der kleinen Gestalt wurden klarer; sie gewann an Festigkeit, kam unter dem Torbogen hindurch und lehnte sich dann erschöpft gegen die Mauer, als sei sie zu lange gelaufen.
»Non’iama«, hauchte Arekh, während das Kind den Blick zu ihm hob.
Das kleine Mädchen musterte ihn. Sie war furchtbar schmutzig, ihre verfilzten Haare standen wie ein Strohkranz um ihren Kopf ab, blaue und schwarze Streifen befleckten ihre Wangen und ihre von Blutergüssen übersäten Ellbogen und Knie.
Sie lächelte, als sie Arekh erkannte, ein breites Lächeln, das ihr ganzes Gesicht verschlang, und begann dann zugleich zu lachen und zu weinen, hüpfte vor Freude, bevor sie ihm um den Hals fiel und ihn mit aller Kraft an sich drückte, während ihr Freudentränen übers Gesicht strömten.
»Herr!«, rief sie, und ihre Stimme war wie ein Lichtstrahl im Nebel. »Ich bin so froh! Ich habe Euch gesucht, aber Ihr wart nicht da … Deshalb bin ich losgezogen, und ich habe den König der Sakâs gesehen … Und ich bin noch weiter gewandert, und jetzt habe ich Euch gefunden … Ich habe Euch gefunden!«
»Nenn mich nicht ›Herr‹«, flüsterte Arekh ihr zu und musste ein Auflachen unterdrücken. »Damit wirst du dir nur Scherereien einhandeln.«
Er drückte sie an sich, während sie weiter unzusammenhängende
Sätze stammelte. Er wankte, sowohl vor Erschöpfung als auch unter ihrem Gewicht, und sie lachte, als er sich zu Boden sinken ließ und sie festhielt.
Dann begann er zu weinen.
KAPITEL 13
Drei Tage später hielt Marikani auf dem großen Hof der Zitadelle Kriegsrat im »Kreis der Ältesten«. Nach kiranyischer Sitte waren große, graue, zu groben Würfeln behauene Steine zu einem kleinen Amphitheater
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