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Volk der Verbannten

Titel: Volk der Verbannten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ange Guéro
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Lachen erstarb; sie senkte den Kopf und starrte den Boden an.
    Dann nahm sie einen Stock und zog eine Linie in die Erde. »Wir sind irgendwo westlich des Nasseri«, sagte sie zögernd und kramte in ihren Erinnerungen - Erinnerungen an Grenzen und an Landkarten, die auf dem Tisch im Kriegssaal ausgebreitet lagen. »Im Süden muss der Lô fließen.«
    Halian nickte. »Ein großer Fluss, eisig, mit schlammigem Wasser. Vor zwei Tagen hat Menala ihn auf dem Rückweg von der Jagd gesehen. Drei Meilen von hier.«
    »Wenn wir also über den Grauen Pass gekommen sind«, fuhr Marikani langsam fort und zog weitere Linien in die Erde, »dann sind wir sicher ungefähr hier, etwa zehn Meilen von der Südstraße und der Grenze des Emirats entfernt.«
    »In der Nähe der Tränenstadt«, sagte Halian, der vor drei Jahren seinen Herrn auf einer großen Reise begleitet hatte. »Die Stadt Sanaos liegt fünf Meilen nördlich von hier. Wie könnte es anders sein?«
    Marikani fuhr sich mit der Hand über die Stirn. Ein Migräneanfall machte sich bemerkbar.
    Achthundert Personen zu ernähren … Die Linien auf dem Boden schienen zu verschwimmen, und sie zwang sich, Fassung zu bewahren. »Es könnte anders sein«, sagte sie zögernd. »Es könnte nämlich sein, dass wir nicht den richtigen Pass genommen haben. Der Pflanzenwuchs kam mir spärlich vor. Wenn ich mich nicht getäuscht habe, dann habe ich euch über den Vihiri-Pass geführt …«

    Sie zeichnete mit dem Stock einen Pass weiter südlich ein. Halian beugte sich zu ihr hinunter, um besser sehen zu können. »Den Vihiri-Pass?«
    »Und dann sind wir fern vom Emirat. Dann ist der Fluss im Süden auch nicht der Lô, sondern ein Arm des Joar. Es ist wichtig, herauszufinden, wo wir uns befinden, Halian. Der Sommer geht zu Ende, und die Lagerhäuser der Städte müssen voller Getreide sein.«
    Halian nickte; er verstand, dachte nach, rechnete. Die Göttin sprach eine Sprache, die er verstand. Die Sprache von Kampf, Plünderung und Beute.
    »Ich werde Laos und Menala als Kundschafter ausschicken. Menala ist dunkelhaarig genug, um als Freier durchzugehen, und Laos hat schon graue Haare. Sie werden sich unter die Flüchtlinge mischen, geradewegs ins nächste Dorf gehen und Erkundigungen einziehen. Sie können noch heute Abend wieder zurück sein, wenn sie sich beeilen«, fügte er hinzu, als er sah, wie Marikani einen Blick auf die mageren Gestalten warf, die sich ums Feuer drängten. »Ich würde gern selbst gehen, aber ich bin zu blond. Ich könnte keine zwei Schritte auf offener Straße machen, ohne in Stücke gerissen zu werden.«
    »Wenn Laos und Menala gefangen genommen werden …«
    … dann dürfen sie selbst unter der Folter nichts verraten , hätte Marikani beinahe gesagt. Wenn die örtlichen Adligen erfuhren, dass Hunderte entflohener Sklaven sich hier im Wald versteckten, würden sie ihre Soldaten schicken, und es würde zu einem Massaker kommen. Und sie wollte sich gar nicht erst vorstellen, was geschehen würde, wenn die Nâlas des Emirs plötzlich im Wald auftauchten
und die Kinder in Stücke hackten, die sich nun blau vor Kälte im Schutz des Zeltes zusammenkauerten …
    Doch sie brachte die Worte nicht über die Lippen. Halian verstand die Lage ohnehin. Das Risiko war ihm bewusst; er würde entsprechende Befehle geben. Nein, so etwas konnte sie nicht sagen - sie konnte nicht einfach von Menschen verlangen, sich foltern zu lassen, ohne mit der Wimper zu zucken.
    Wer war sie denn, dass sie etwas Derartiges hätte befehlen können? Laosimba und die Seelenleser hatten sie gefoltert - kaum einige Stunden lang, nur oberflächlich, so dass sie davon bloß einige Narben an Armen, Schulter und Brust zurückbehalten hatte. Marikani hatte auch schon echte Folterungen miterlebt - die Henker von Harabec waren genauso begabt wie ihre Kollegen in Reynes -, und das, was sie erlitten hatte, hatte damit nichts zu tun gehabt. Die Seelenleser hatten sie bei guter Gesundheit halten wollen, um sie vor Gericht zu stellen, und hatten Wert darauf gelegt, dass sie bei Verstand blieb, um das ganze Ausmaß ihrer Blasphemie schildern zu können - und sicher auch, um von ihr so viele Informationen wie möglich über die Streitkräfte und Staatsgeheimnisse von Harabec zu erhalten.
    Kurz gesagt, die Folterungen, die an ihr vorgenommen worden waren, waren nur symbolisch gewesen. Man hatte ihr wehgetan, ohne ihr ernsthaften Schaden zuzufügen, ohne sie verrückt zu machen - und außerdem waren die Seelenleser

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