Volk der Verbannten
Arekh zerbrochen.
Seine letzten Verteidigungswälle.
Er wusste natürlich, was für dieses Phänomen verantwortlich war. Die Übermüdung. Die Erschöpfung durch die Schlacht, die Hoffnungslosigkeit. Die Barrieren, die aufzubauen ihn Jahre gekostet hatte, brachen eine nach der anderen zusammen. Im Vergleich mit den Kräften, die sich heute Abend zerfleischten, wirkte das, was Marikani und ihn trennte, so lächerlich …
Irgendjemand trat heran. Harrakin. Arekh warf ihm einen kurzen Blick zu und deutete dann auf die dunklen
Umrisse der Stadtmauern und die reglosen Feuer der Sakâs. »Sie haben haltgemacht. Das gefällt mir nicht.«
Nahe an der Westmauer, zehn Meilen von hier, zeichnete das Schachbrett aus Licht und Schatten besser als eine Landkarte die Positionen der Armeen nach. Der Teil der Straße, der an den Feind gefallen war, ertrank in Sakâs-Fackeln wie in einem Fluss voll funkelnder Steine. Dahinter lagen die dunklen Linien der Truppen aus Harabec und von Gilas’ Armee, noch weiter hinten das Lager. Zur Rechten, auf den Feldern, konnte man Arekhs Männer als dunkle Masse ausmachen. Im Wald huschten vereinzelte Lichter umher.
»Das Große Tor brennt«, sagte Harrakin und wies nach Norden.
Das war eine Übertreibung - einzelne Flammen züngelten im Dunkeln an dem Ort, an dem, wie sie beide wussten, das Tor lag. Kleine Gestalten, die von einem rötlichen Licht erhellt wurden, eilten geschäftig umher, sicher, um den Brand zu löschen, der sich bereits wieder legte.
Lange herrschte Schweigen.
»Es sind noch Truppen in Harabec«, sagte Arekh nach einer Weile. »Selbst wenn Reynes …« Er deutete auf die Stadt und machte sich nicht die Mühe, seinen Satz zu vollenden. »Ihr könntet Euch immer noch verteidigen. Und die Sakâs werden hier einen Großteil ihrer Kräfte erschöpfen. Vermutlich werden sie nicht weiter nach Süden vordringen. Sie werden sich darauf beschränken, die Stadt zu plündern, bevor sie so rasch in ihre Heimat zurückströmen, wie sie gekommen sind. Die Königreiche des Südens werden vielleicht gar nicht betroffen sein …«
Harrakin drehte sich zu Arekh um. »Und Ihr wollt
Euch einen gewissen Ruf als Spion erworben haben? Ich dachte, dazu müsste man gut lügen können.«
Arekh machte eine entschuldigende Handbewegung.
Harrakin zuckte die Achseln. »Ich wollte den Thron und habe ihn. Ich habe nicht das Recht, mich zu beklagen. Ich habe mir das alles nur« - er hob abermals die Schultern - »ruhiger vorgestellt.«
»Ihr schlagt Euch wacker«, sagte Arekh.
»In Anbetracht der Umstände … wahrscheinlich. Hat Laosimba Euch gesehen?«
»Noch nicht«, antwortete Arekh.
»Ich kann es kaum erwarten«, sagte Harrakin mit einem raubtierhaften Lächeln. »Das Unbehagen des Hohepriesters mit anzusehen ist für mich der einzige Hauch von Freude an diesem trüben Abend.«
Arekh drehte sich um und warf einen Blick zu dem Seelenleser hinüber. »Ich habe ihm versprochen, ihn zu töten«, sagte er matt.
»Wem? Dem Hohepriester?«, fragte Harrakin mit einem gewissen Interesse.
»Ja.« Arekh sah erneut zum Tisch hinüber. »Und das könnte ich tun, nehme ich an. Hier und jetzt. Marikanis Leute würden nicht dazwischengehen. Es wäre ihnen egal, und seine Eskorte ist zu weit weg, um einzuschreiten. Zumindest könnte sie nicht eingreifen, bevor ich diesem Hurensohn Kopf und Hände abgeschlagen hätte. Aber den Befehlshaber der Verteidigungstruppen von Reynes zu töten, wenn die Stadt in Gefahr ist … Nun ja, das zu tun wäre sicher nicht das Klügste.«
»Was wollt Ihr?«, fragte Harrakin mit einer wegwerfenden Handbewegung. »Man hält seine Versprechen eben nicht immer. Laosimba töten … Den Gefallen würde ich
Euch gern tun, die Götter seien meine Zeugen! Aber Ihr habt recht, der Augenblick wäre schlecht gewählt.«
Arekh starrte ins Dunkel und suchte Marikani mit Blicken. Sie war noch immer nicht da.
Dann glaubte er, sie in den Schatten zu erspähen. Nein. Das war sie nicht.
Die Brust zog sich ihm schmerzhaft zusammen.
»Ich glaube, wir sollten uns hinsetzen«, sagte er nach einem letzten Blick auf den Seelenleser.
Er ging auf den Tisch zu und ließ sich wortlos gegenüber von Laosimba nieder. Wenn Harrakin auf einen Eklat gehofft hatte, wurde er enttäuscht. Laosimbas Reaktion war heftig, aber unauffällig. Er starrte Arekh eine ganze Weile verstört an, als könne er seinen Augen nicht trauen. Dann wandte er sich zu einem der Priester seines Gefolges um und sprach lange mit
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