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Volk der Verbannten

Titel: Volk der Verbannten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ange Guéro
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ihnen gelingen würde, es physisch zu berühren. Doch es war ihnen gelungen. Es war nur ein zeitweiliger Durchbruch: An beiden Seiten tobte der Kampf weiter, und bald würde die Hundertschaft Sakâs, der es gelungen war, bis hierher vorzudringen,
vernichtet sein. Aber andere würden in Wellen nachrücken und Feuer bei sich tragen. Das Feuer der Fackeln, das Feuer, das die seltsame, ölige schwarze Flüssigkeit erfasste, die die Sakâs in kleinen Fässchen transportierten, die sie vor oder auf das Große Tor warfen, wann immer es ihnen gelang, nahe genug heranzukommen. Das Feuer erfasste diese unbekannte Flüssigkeit rasch; es klammerte sich daran fest, weigerte sich, wieder zu erlöschen. Die Flammen nagten am Holz und breiteten sich mit der Flüssigkeit wie eine klebrige Lache aus.
    Das Große Tor war dick und metallverstärkt. Und dahinter lagen Fallgatter und ein weiteres Tor und weitere Fallgatter und noch ein Tor. Sie würden mehr als die Flammen benötigen, um durchzukommen. Aber das Große Tor war seit Jahrhunderten nicht geschlossen gewesen. Seit Jahrhunderten hatte niemand es verteidigen müssen. Zu sehen, wie das Feuer daran leckte, war Blasphemie, und die Götter selbst - so dachte Luisi - mussten dort oben blutige Tränen vergießen.
    Ich werde eher sterben, als es fallen zu sehen , dachte der Soldat und warf sich vorwärts, auf einen weiteren Sakâs, der ein Fässchen schleppte. Die Schmerzen in seinem verletzten Arm waren mittlerweile unerträglich. Die tote Last an seiner Schulter brachte ihn aus dem Gleichgewicht und führte dazu, dass seine Hiebe weniger treffsicher wurden, aber er schlug dennoch zu und legte seine ganze Energie in seine Klinge.
    Der Sakâs parierte und stürmte dann mit dem Kopf voran auf Luisi zu, der stolperte und stürzte. Ein Aufblitzen von Schmerz blendete ihn einige Augenblicke lang, und er wartete auf den Gnadenstoß …
    Der nicht erfolgte.

    Da war ein Geräusch gewesen, ein Hornsignal vielleicht.
    Plötzlich herrschte Ruhe auf dem Schlachtfeld.
    Die Sakâs zogen sich zurück. Die Lichter ihrer Fackeln strömten wie eine Flutwelle davon, bevor sie etwa hundert Schritte vom Großen Tor entfernt zum Stillstand kamen.
    Dann rührte sich nichts mehr.
    Luisi stand langsam auf. Im Lager der Verbündeten sahen die Offiziere sich unsicher an, freuten sich aber, eine Atempause zu erhalten - auch wenn sie nur einige Sekunden dauern mochte.
     
    Non’iama schritt vorwärts. Das Herz klopfte ihr bis zum Hals. Niemand war bei ihr. Einer der Krieger hatte ihr gesagt, dass der König sie erwartete, und hatte dann zum Grat gedeutet.
    Der Rand des Abgrunds lag im Dunkeln. Das kleine Mädchen tastete sich vorsichtig voran und nahm sich in Acht, um nicht zu stürzen. Als der Boden vor ihr aufklaffte, blickte sie auf die Landschaft unter ihr hinab und hielt fasziniert den Atem an.
    »Bewunderung oder Entsetzen?«, fragte eine vertraute Stimme.
    Non’iama zuckte zusammen und drehte sich dann um. Der König saß am Rand des Steilhangs und rauchte eine Nissia , ein dünnes Stäbchen aus zusammengepressten, duftenden Kräutern, die, wie man sich erzählte, den Geist klärten und das Herz erfreuten. Der zarte weiße Rauch stieg in die Nachtluft auf; sein Geruch vermischte sich mit dem der Moose und Baumrinden.
    »Es ist schön«, sagte Non’iama. »Fast so wie … diese
kleinen, leuchtenden Fische, die nachts in den schwarzen Tümpeln umherhuschen. Oder wie Glühwürmchen.«
    Der König drehte sich zu ihr um und zeigte mit dem Ende seiner Nissia auf sie. »Gute Antwort. Einer Hâman würdig.«
    »Warum haben sie haltgemacht?«, fragte Non’iama.
    »Sogar meine Männer brauchen Ruhe«, sagte der König. »Und außerdem …« Er lächelte wie über einen Scherz, den nur er verstand. »Es gibt zahlreiche Gründe. Einer davon ist, dass die Furcht sich langsam steigert.«
    Non’iama sah ihn verständnislos an. Der König nahm einen weiteren Zug. »Wir gewinnen. Das wissen alle. Die Offiziere werden eine sehr schlimme Nacht damit verbringen, über ihre Befürchtungen nachzugrübeln und Taktiken auszuarbeiten, von denen sie wissen, dass sie hoffnungslos sind. Eine Ermüdung der Moral ist manchmal grausamer als körperliche Erschöpfung.« Noch ein Zug. »Und? Bringst du mir Ayeshas Antwort? Ich nehme an, dass sie nicht grundlos mit ihrer ganzen Armee von so weit her gekommen ist.«
    Non’iama konnte sich nicht davon abhalten, einen Blick zum Ostrand des Großen Kreises zu werfen, bevor sie sich mit

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