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Volk der Verbannten

Titel: Volk der Verbannten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ange Guéro
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Bewegungen und Blicke beobachtet und als Orakel ausgelegt wurden.
    Der Junge schloss die Augen und zählte bis zehn. Dann setzte er sich mit geschlossenen Lidern auf. Er fühlte sich jetzt völlig wach. Wenn er die Augen öffnete, würde der Albtraum verflogen sein, verschwunden in den Falten des Bettvorhangs.
    Er öffnete die Augen.
    Sie war da.
    Dunkelhaarig, mit einer türkisblauen Löwentätowierung im Gesicht, die ihr das Aussehen einer Raubkatze verlieh. Sie saß auf dem Bett und sah ihn an.
    Die Demeana.
    Das Kind erstarrte vor Entsetzen - einem so finsteren, vollkommenen Entsetzen, dass all seine Gliedmaßen
eiskalt wurden. Der Magen drehte sich ihm um, seine Lunge krampfte sich zusammen; ihm wurde fürchterlich übel.
    »Seid mir gegrüßt, Majestät«, sagte die Demeana. »Wie schade, in solch einer schönen Nacht eingesperrt zu sein. Es steht kein Hauch von Nebel am Himmel, und die Sterne funkeln so hell …«
    Wie seid Ihr hereingekommen? , wollte der Junge gern schreien, aber er wollte es eigentlich gar nicht wissen. Er durfte es nicht wissen. Die Antwort würde vom Hauch der Abgründe erfüllt sein und brüllen wie die Geschöpfe des Gottes, dessen Namen man nicht nennt.
    »Ihr seid gewachsen, seit wir uns in Salmyra zum letzten Mal gesehen haben«, fügte die Frau, die keine Frau war, lächelnd hinzu.
    Bei dieser Erinnerung - die Demeana hatte in seiner Nähe am selben Tisch gesessen, bei der Ratsversammlung, die kurz vor dem Fall der Stadt stattgefunden hatte - zitterte der kleine Junge vor Entsetzen. Wie war es nur möglich, dass er sie begrüßt und mit ihr gesprochen hatte, ohne dass das Blut des Gottes, das er in sich trug, aufbegehrt hatte?
    »Bei Fîr und Lâ!«, flüsterte er. Er zitterte am ganzen Körper; seine Stimme war kaum zu hören. »Bei Fîr und Lâ, Wesen aus Dunkelheit und Hass, ich stoße dich von mir, ich vernichte dich, ich schicke dich zurück in den Schatten, aus dem du nie hättest hervortreten dürfen. Bei Fîr und bei Lâ« - er legte sein Herz, seine Seele und sein ganzes Wesen in diesen Bannspruch -, »Tochter der Abgründe, weiche !«
    Die junge, dunkelhaarige Frau, die auf der Bettdecke saß, rührte sich nicht. Sie verschwand nicht. Sie musterte
ihn nur weiter mit einer gewissen Melancholie, einer Art Schmerz, die das Kind nicht zu deuten wusste.
    Dann wandte sie den Blick ab, und als sie ihn wieder auf den kleinen Jungen richtete, las er darin eine Kälte und Entschlossenheit, die ihn dazu brachten, sich unter der Decke zusammenzukauern.
    Sie hob die Hand. Der kleine König unterdrückte einen Schrei … Und dann ergriff sie langsam, während sie ihn weiter ansah, die geweihte Kerze.
    Und blies sie aus.
    Die Flamme erlosch.
    Der kleine König keuchte. Ihm war, als drücke eine eiserne Hand ihm die Kehle zusammen; der Würgegriff des Todes schloss sich um ihn. In Panik und völligem, scheußlichem Schrecken wurde sein ganzer Körper von unkontrollierbaren, schrecklichen Krämpfen geschüttelt. Die Demeana hob die Kerze und sah zu, wie ein dünner Rauchfaden zur vergoldeten Decke aufstieg.
    Dann stand sie auf, neigte die Kerze zu einer der fünf Flammen, die vor der Murufer-Statue brannten, und zündete sie wieder an.
    Sie blieb einen Moment lang reglos stehen und musterte die Flamme. Die Krämpfe des kleinen Königs legten sich, und er begann laut zu schluchzen; Tränen strömten über seine Kinderwangen.
    »Wir werden Kiranya durchqueren, um Samara zu erreichen«, sagte die Demeana und musterte weiter die Flamme der Kerze. »Ich und mein Volk, das Ayesha-Volk. Wir werden den Weg über die Hochebenen im Norden einschlagen, den, der oberhalb des Festungsgürtels entlangführt. Dann und wann werden wir Scheunen oder Lagerhäuser plündern. Ihr werdet nichts dagegen unternehmen.
Ihr werdet Eure Truppen in den Kampf gegen die Sakâs im Süden schicken. Eure Verbündeten brauchen Euch.«
    Marikani drehte sich wieder zu ihm um und stellte die Kerze auf ihrem Sockel ab. Der kleine Junge war noch immer tränenüberströmt, aber er hörte zu, die großen, goldbraunen Augen auf Marikanis Gesicht gerichtet.
    »Ich sage es noch einmal: Eure Truppen werden sich auf die Sakâs im Süden konzentrieren. Und mein Volk wird Euer Land bis zum Ozean durchqueren.«
    Der Kleine zitterte noch immer. Marikani zögerte. Wenn sie zu sehr ins Detail ging, würde sie die unwirkliche Atmosphäre zerstören, auf der der Erfolg des Gesprächs fußte. Der Junge war leichenblass; sein Herz durfte nicht

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