Voll erwischt
allem hielt. Wenn sie will, daß Norman Brown sie findet, dann ist das okay. Wenn sie nicht gefunden werden will, würde Sam dem Burschen sein Geld zurückgeben.
Kapitel 9
George, achtundzwanzigjähriger, italienischstämmiger Gründer der Männergruppe, der sich seit kurzem Giorgio nannte, weil es «softer klang», stellte das Thema des Abends vor: Verrat.
«Wir alle kennen den nach außen gerichteten Verrat», sagte er. «Wie wir uns für ein Weibchen gegenseitig manipulieren und bekämpfen, ja genaugenommen überhaupt um den Besitz von irgendwas. Ausnahmslos materielle Dinge. Aber ich hatte gehofft, wir könnten heute abend ein wenig über den nach innen gerichteten Verrat sprechen, über die vielfältigen Weisen, auf die wir uns selbst verraten.
Von unseren Trieben, besonders den sexuellen Trieben, werden wir zum Beispiel zur Fortpflanzung gedrängt. Wir folgen ihnen einfach blind, obwohl wir genau wissen, daß es nicht unbedingt immer zu unserem Besten ist. Unser Körper verrät uns, führt uns in emotionale Situationen, zu deren Bewältigung uns oft genug das nötige Rüstzeug fehlt. Wir werden an allen Fronten verraten, durch Trägheit, Ehrgeiz, Hochmut und Habgier. Solange wir uns dieser Prozesse nicht bewußt sind, sind wir ihnen auf Gedeih und Verderb ausgeliefert.»
Bock, der Typ, der wegen all der Ringe in Ohren, Nase und an den Fingern aussah wie ein Weihnachtsbaum, hatte vier Kinder, alle noch unter vier Jahren, und gleichgültig, welches Thema vorgestellt wurde, immer glaubte er, es ginge um sie. Er sagte: «Ich verlasse mich ausschließlich auf meine Triebe. Was anderes bleibt uns doch gar nicht mehr. Ich seh mir meine Jüngste an, Rosy, und ich weiß nicht, was ich denken soll, sie ist so hilflos, Mann. Ich bade sie oder wechsle ihr die Windel, egal was, es ist doch immer das gleiche. Sie streckt die Hände nach mir aus, und ich strecke die Hände nach ihr aus, und genau in der Mitte, zwischen ihrem Greifen und meinem Greifen, genau da in der Mitte ist Liebe. Und ich sehe diese Liebe, und Rosy, sie sieht diese Liebe auch, und ich finde nicht, daß einer von uns beiden verraten wird.»
Sam mochte diese komischen Typen allmählich. Es hatte ziemlich lange gedauert. Es steckte voll harter Arbeit, denn sie waren genauso voller Scheiße wie Rosys Windeln.
Aber wer war das nicht?
So sah er die Sache jetzt. Er wußte, daß er sich selbst auf unzählige Weisen verraten hatte. Voller Ironie dachte er, daß er selbst vielleicht ein- oder zweimal verraten worden sein könnte, genau wie er andere verraten hatte, die sich auf ihn verließen. Für Sam war alles ein ökologisches Ganzes. Was man als Input reinsteckte, kam früher oder später als Output wieder raus. Und alles befand sich in Bewegung. Es gab keine Ausnahmen. Manches humpelte eher durch die Gegend, anderes raste mit hundertsechzig Sachen vorbei, aber nichts blieb jemals stehen oder wurde aus der Bahn geworfen, alles blieb in der Gesamtheit enthalten.
Diese Typen in der Gruppe schienen zu glauben, sie könnten alles aufhalten. Als würde die Welt eines Tages eine andere Gestalt annehmen, wenn sie sich nur regelmäßig trafen und darüber redeten. Und natürlich hatten sie recht. Sie glaubten an Zauberei. Sie glaubten an die Existenz von Magie.
Wenigstens kamen sie aus dem Haus, sie hockten nicht zu Hause rum und ließen sich von der Kiste programmieren. Sie suchten etwas, schleppten immer all das Gepäck ihrer vorgefaßten Meinungen mit sich herum. Waren aber trotzdem auf der Suche. Nach dem wilden, dem unzivilisierten Mann, nach der weiblichen Seite ihres Wesens, verdammt, sie hatten alle möglichen Namen dafür, für dieses Etwas, das ihnen irgendwann im Laufe ihres Lebens abhanden gekommen oder vielleicht auch gestohlen worden war.
Wenn man sich auf eine Suche begibt, wenn man lange genug und konzentriert genug hinsieht, dann wird man früher oder später auch etwas finden. Spielt überhaupt keine Rolle, ob man blind ist, man ist ohnehin geblendet durch alles, was man je gelesen oder je gelernt hat. Nimm’s nur in Angriff und fang an zu suchen, früher oder später wirst du schon drüber stolpern.
Sie waren alle Detektive, sogar Bock mit seiner Rosy. Sie hatten nicht die geringste Spur. Nur eine Ahnung, daß sie eines Tages eine finden würden.
Dieses Treffen ähnelte in manchen Punkten einem Treffen der Anonymen Alkoholiker. Manchmal ertappte sich Sam bei der einen wie der anderen Zusammenkunft dabei, daß er sich fragte, wo
Weitere Kostenlose Bücher