Voll erwischt
er denn nun gerade war. Auf beiden Treffen strebten die Teilnehmer nach einer anderen, alternativen Wirklichkeit, die zu erreichen sie allein nicht in der Lage waren, es aber gemeinsam packen könnten. Beide Gruppen waren zahlenmäßig über die letzten paar Jahre in direktem Verhältnis zur Rezession angewachsen, die sich selbst dem Alter näherte, in dem Alkoholkonsum erlaubt war. Der wesentliche Unterschied zwischen beiden Gruppen bestand darin, daß die Männergruppe den Sommer über nicht stattfand. Dies war das letzte Treffen, das sie bis Herbst haben würden. Wohingegen die AA-Treffen ewig weitergingen. An dem Tag, an dem sie aufhörten, würde es mit der Welt den Bach hinuntergehen.
Sam sagte nichts zu nach innen gerichtetem Verrat. Das hob er sich für die AA-Zusammenkünfte auf. Er verfolgte die Diskussion nur mit einem Ohr. Als Bock von seiner Tochter erzählte, kehrten Erinnerungen an Sams eigene Tochter zurück. Daran, wie Donna, seine erste Frau, und ihre kleine Tochter von einem unfallflüchtigen Autofahrer niedergemäht wurden. Bocks Bild von Rosy, die im Bad ihre Hände ausstreckte, wurde zu Sams eigenem Bild. Dieses Bild füllte seine Gedanken eine Weile aus.
Bronte war zwei gewesen, als sie starb. Schlank und dunkelhaarig wie ihre Mutter, aber immer noch mit all dem Babyspeck. Es hatte eine Stunde gedauert, bis man nach dem Unfall ihren Körper fand. Donna war am Straßenrand gefunden worden, sie lebte zwar noch, war aber nicht bei Bewußtsein; da es keine Augenzeugen des Unfalls gab, hatte niemand daran gedacht, nach Bronte zu suchen. Ein Mann, der von der Arbeit nach Hause kam, hatte sie schließlich in seinem Vorgarten gefunden. Fast jeder einzelne Knochen in ihrem Körper war gebrochen. Die Wucht des Aufpralls hatte sie fast fünfzehn Meter weit durch die Luft geschleudert. Der Fahrer mußte mit ungefähr hundertfünfzig angerast gekommen sein, meinte der Gerichtsmediziner. Und dann hatte er verkündet: «Tod durch Unfall.» Sam mußte den Kopf schütteln, um es zu vertreiben. Dieses Bild. Es blieb noch einen Moment, dann brach es wie die kleinen Steinchen in einem Kaleidoskop in sich zusammen, verwandelte sich langsam zu etwas anderem.
Kapitel 10
Norman knackte einen Nissan Stanza 1,65 SGL auf dem Parkplatz des Castle Museum in York. Er hatte sich für diesen Wagen entschieden, weil er ein Schiebedach besaß und Norman den ganzen Tag geschwitzt hatte. Zentralverriegelung, elektrische Fensterheber und Servolenkung. Dieses Modell hatte er noch nie geknackt, wußte aber aus dem Knast, wie man es anstellen mußte. Hatte es sich gut gemerkt, denn er brauchte dafür nur etwa acht Minuten. Das nächste Mal würde es in vier klappen. Beim übernächstenmal wahrscheinlich in zwei.
Er fuhr auf die Umgehungsstraße hinaus und weiter zu dem Typ, dem der Waffenladen gehörte. Bog in die Einfahrt und stellte den Wagen vor der Garage ab. Auf der Straße war alles ruhig. Norman behielt die Handschuhe an, nahm seine Reisetasche vom Beifahrersitz und stieg aus. Er ging um die Garage zum Hintereingang des Hauses und legte sich auf die Klingel.
Die Frau, die ihm aufmachte, war um die fünfzig, etwas jünger als ihr Mann. Sie trug eine Brille mit dicken Gläsern in einem hellblauen Gestell, und ihre Haare hatten vorne diese bläulichen Stellen, gefärbt, aufgetürmt und elastisch, als wäre sie eben erst beim Friseur gewesen. Sie hatte lange Zähne. «Ja?» fragte sie und sah Norman mit seiner Reisetasche in der Hand an, als sei er gerade aus einem Loch im Boden hervorgekrochen.
«Ach, scheiß der Hund drauf», sagte er, schob sie ins Haus zurück und drückte hinter sich die Tür zu.
Sie schwankte in einen Küchenbereich zurück, stürzte beinahe, aber nicht ganz, konnte sich am Herd abstützen. «Was zum Teufel bilden Sie sich eigentlich ein?» fauchte sie, immer noch mit diesem Ton, bei dem Norman ihr am liebsten eine reingehauen hätte. Ausgespuckt hätte er am liebsten.
«Was ich mir einbilde?» sagte er und setzte sein Lächeln auf, um ihr zu zeigen, daß er nicht im geringsten eingeschüchtert war. Er stellte seine Tasche auf die Teppichfliesen und nahm die Wäscheleine heraus. «Ich feßle dich jetzt. Das stell ich mir vor.»
Dann fing sie an zu schreien. Es würde ein langer und lauter Schrei werden, so wie sie ihn immer in diesen Horrorfilmen ausstießen, also blieb Norman gar keine andere Wahl, als ihr eine aufs Maul zu geben. Er hatte ihr nicht so weh tun wollen, daß ihre Lippe
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