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Voll erwischt

Voll erwischt

Titel: Voll erwischt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Baker
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zurückzog. Die Zukunft erschien ihm wie ein substanzloser Traum. Die Gegenwart völlig unwirklich. Die Gegenwart war wie ein Wochenendausflug, wie in der Werbung von diesen Firmen, die immer Preisausschreiben veranstalteten. Aber soweit er zurückdenken konnte, stand die Vergangenheit immer für Gewalt. Gewalt ausgehend von seiner Mutter und ihren Freunden. Von den Nachbarn und der Polizei während seiner frühen Kindheit. Vom Sozialamt und, nachdem seine Mutter verschwunden war, vom Personal im Waisenhaus. Nachdem er aus dem Laden abgehauen war, erlebte er die Gewalt auf der Straße.
    Geordie sah die Gewalt nicht aufgesplittet in Gewalt seitens seiner Mutter, seitens der Polizei, auf der Straße. In seinem Kopf war das überhaupt nicht so. Es war schlicht und einfach ein einziger, solider Block. Er konnte es nicht begreifen. Es erstreckte sich von hier bis zum Horizont. Es blieb bis in alle Ewigkeit so, wie Fußschellen.
    Die einzige echte Unterbrechung in der andauernden Geschichte seines Lebens stellte jener Abend dar, an dem Sam ihn aufgegabelt und mit nach Hause genommen hatte. Und dann später, als Sam ihn Celia vorstellte. Seitdem, mit Sam und Celia, war die Gewalt nicht länger ein einziger solider Block. Sie zerfiel in einzelne Stücke. Nachdem Sam und Celia in die Gleichung gekommen waren, gab es nur noch Zeitabschnitte der Gewalt. Und zwischen diesen Zeiten der Gewalt gab es Zeiten des Friedens, Zeiten der Musik, Zeiten der Einsamkeit, Zeiten des Lachens. Ja sogar Zeiten der Zärtlichkeit.
    Celia sagte, so was nannte man Leben.
    Geordie wußte nicht, was er vorher erlebt hatte. Er wußte nur, daß er keine Gewalt mehr erleben wollte.
    Sam sagte, es gab kein Leben ohne Gewalt.
    Normalerweise wollte Geordie, daß Sam recht hatte. Normalerweise hatte Sam recht. Aber dies war eines der Dinge, von denen Geordie hoffte, daß er sich irrte.
    Obwohl Geordies drängendster Impuls also darin bestand, Distanz zwischen sich und die Gewalt zu bringen, war da noch ein zweiter Impuls, der in direktem Widerspruch zu ersterem stand. Dieser Impuls drängte aus der Gegend seines Solarplexus nach oben und konnte ihn in einen Tobsuchtsanfall treiben, in eine Art Energiebündel verwandeln. Geordie würde losrasen, sich mitten ins Getümmel stürzen und zur kratzenden, schlagenden, reißenden, beißenden Inkarnation purer Aggression werden.
    Als er eine Zeitlang im Knast gesessen hatte, bevor Sam aufkreuzte, zwischen dem Heim und der Straße, handelte er sich sehr schnell den Ruf ein, auf alles und jeden loszugehen. Eine Weile drosch er damals auf den erstbesten ein, der ihm zufällig über den Weg lief. Zielte auf die Kehle. Schlug zwischen die Augen. Egal, wer vorbeikam, Schließer oder Knacki, Besucher oder Sozialarbeiter. Einmal schlug er sogar einen Priester. Daraufhin sagte der Gefängnisdirektor: «Steckt ihn eine Weile in den Bunker.»
    Wieder zurück im Hauptzellenblock, galt er immer noch als der kleine Psychopath, der jederzeit mit Stiefeln und Fäusten, Knien und Ellbogen auf einen losgehen könnte. Er würde mit allem angreifen, das sich bewegte. Er konnte mit der Stirn zustoßen oder mit zwei Fingern - einer für jedes Auge. Er war ein wandelndes Pulverfaß, und man wußte nie, wann er hochgehen würde. Und es funktionierte. Geordie suchte sich einen kräftigen Burschen aus, ging einfach zu ihm und sagte: «Glaubst du vielleicht, du kannst mich einfach so anglotzen und kommst auch noch damit durch?»
    «Wer? Ich? Würde ich nie tun, Kumpel. Ich such keinen Streit.» Bei der Aussicht auf eine Schlägerei mit Geordie konvertierten unerklärlicherweise selbst die kräftigsten und härtesten Knackis zu einer neuen Religion, die jeder im Knast unter der Bezeichnung Fromme Feigheit kannte.
    Doch am Ende bekam das System auch Geordie klein. Anfangs machte er auf knallhart und zeigte, daß sie ihn nicht kleinkriegen, er seine Integrität wahren und niemals kniefällig werden würde. Aber Geordie lernte, daß man seine Zeit im Knast nicht verplemperte, sondern sinnvoll verbrachte. Du knallst deinen Tisch gegen die Wand und schleppst das Bett vor die Tür und verbarrikadierst dich. Du verweigerst das Essen. Und früher oder später erkennst du, daß Gefängnis weh tut.
    Es tut irgendwo in einem weh. Ganz tief in einem tut’s weh. Als Geordie aus seiner Zelle trat, um runter in die Kantine zu gehen, sah ihn niemand. Sie sahen nur einen Knacki mit einem Lächeln auf dem Gesicht, der mit pendelnden Armen ging. Hi, Sid. Hi,

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