Voll erwischt
Sam. «Den Namen ihres Mannes vielleicht? Irgend etwas, das mir weiterhelfen könnte?»
Die Frau schüttelte den Kopf. «Ihn würde ich auch wiedererkennen», sagte sie. «Ein großer Bursche mit einem Rotschopf. Aber ich weiß nicht, wie er heißt.»
Der Ehemann tauchte hinter ihr auf. «Es fängt jetzt an», sagte er und verschwand wieder. Kurz darauf hörte Sam die Erkennungsmelodie von Nachbarn.
«Ich muß jetzt wieder rein», sagte sie.
«Das Krankenhaus», sagte Sam. «Die Anstalt? Wie heißt
die?»
Die Frau wurde nervös. Die Erkennungsmelodie der Seifenoper verklang. «Bentley Cross.» Sie wollte die Tür schließen.
Sam nahm eine seiner Visitenkarten und wedelte ihr damit zu. «Falls Sie sich an noch etwas erinnern», sagte er. «Ich wäre Ihnen sehr dankbar.» Er schob die Karte durch den inzwischen sehr schmalen Spalt und spürte, wie die Frau sie ihm aus der Hand riß.
Dann zog er gerade noch rechtzeitig die Finger zurück, bevor sie von der Tür zerquetscht wurden.
«Mein Gott, Barney», sagte er zu dem Hund und betrachtete; seine Finger. «Bei diesem Job brauchen wir Gefahrenzulage.»
Das Bentley-Cross-Pflegeheim lag in einem grünen nördlichen Vorort der Stadt. «Tut mir leid», sagte Sam zu Barney, «aber du mußt im Auto warten.» Der Hund wirkte weder überrascht noch glücklich.
Sam ging die Kieszufahrt zu dem Gebäude hinauf, einer großen georgianischen Villa, deren wuchtige Eichentür von einem pseudogotischen Vorbau umrahmt wurde. Die Tür war nur angelehnt. Sam drückte sie auf und fand sich in einem Empfangsbereich wie- f der. Hinter der Rezeption saßen zwei junge Frauen. Auf ihren Lippen lag das gleiche einstudierte Empfangsdamenlächeln, ihre Augen blitzten, und sie trugen ein identisches Make-up. «Guten Tag. Kann ich Ihnen helfen?» fragte die linke. Die Augen der anderen funkelten unterstützend. Könnte die erste nicht helfen, würde sie sofort in die Bresche springen.
«Ich möchte Mrs. White besuchen», sagte Sam. «Mrs. John White.»
«Sind Sie ein Angehöriger?» fragte das Mädchen.
Sam schüttelte den Kopf. «Ein Freund.»
Die Angestellte schob ihm ein Register zu. «Wenn Sie sich bitte hier eintragen würden», sagte sie. «Ich bringe Sie dann zu ihr runter.»
Runter, dachte Sam. Lebt sie etwa im Keller? Er trug sich in das Besucherbuch ein und folgte der Empfangsdame einen Korridor hinunter zu einem Zimmer mit vier Betten, keines davon war belegt. Eine kleine, zerbrechlich wirkende Frau saß neben einem der Betten. Sie trug einen Morgenrock, und als Sam mit der Empfangsdame den Raum betrat, wandte sie den Kopf ab und schaute hinter sich, als kämen die Geräusche, die ihr Eintreten verursachte, von dort.
«Sie haben Besuch, Mrs. White», sagte das Mädchen. Sie sah Sam an. «Darf ich Ihnen vielleicht eine Tasse Tee bringen?»
Sam lehnte dankend ab, und das Mädchen ließ ihn mit der alten Dame allein. Er zog sich einen Stuhl heran und setzte sich neben Mrs. White. Sie sah stur geradeaus und machte von Zeit zu Zeit eine nervöse Handbewegung. Ihr Kopf bewegte sich rhythmisch von einer Seite auf die andere. Ihr Gesicht war eine Maske.
«Ich habe mit einer alten Nachbarin von Ihnen gesprochen», sagte Sam.
Keine Reaktion. Es war, als wäre er gar nicht da.
«Ich versuche Selina zu finden», sagte er.
Nichts. Das rhythmische Kopfschütteln dauerte ohne Unterbrechung an.
«Oder Louise?»
Der Kopf der alten Dame drehte sich ihm zu. «Iß das Brot nicht», sagte sie. «Da sind Maden drin.»
Jemand war zu Hause, aber sie machte die Tür nicht auf. Wer immer dort drinnen existierte, saß im Dunkeln, hatte die Vorhänge fest zugezogen und die Welt ausgeschlossen. Mit einem unvollständigen Blatt, vielleicht noch einem guten Dutzend Karten, legte sie eine Patience.
Sam blieb noch zehn Minuten bei ihr sitzen. Es gab keinen weiteren Wortwechsel. Einmal schaute sie zur Tür und zeigte, ein oder zwei Augenblicke ganz aufgeregt, darauf. Aber was immer sie dort sah, es mußte sich in Luft aufgelöst haben, denn im nächsten Moment hatte sie bereits wieder zu ihrem unbeweglichen Starren zurückgefunden. Ohne die Lippen zu bewegen, stieß sie eine Sequenz kehliger Töne aus. Sie verstummte, und eine Minute später wiederholte sie die gleiche Tonfolge. Der Anfang eines Liedes. Es war kaum zu erkennen. Sam wußte, was es war, nur fiel ihm weder der Titel ein noch konnte er sich erinnern, wie das Lied weiterging. Er stand auf und streichelte leicht über ihren Kopf.
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