Voll erwischt
Chass. Das war der Geordie, den sie sahen, das Äußere, aber in seinem Inneren war ein Loch, ein großes leeres Loch, mehr nicht, nur eine große tiefe Verletzung. Es fraß an ihm, ließ ihn kleiner und kleiner werden, Zentimeter um Zentimeter, entzog ihm mehr und mehr von dem, was von seiner Persönlichkeit und seinen Gefühlen noch übrig war, jedes kleine Stückchen seiner Individualität. Als er dann schließlich entlassen wurde, war nichts mehr übrig.
Bis auf jetzt. Bis auf das, was er dank Sams und Celias Hilfe wiedererlangt hatte. Irgendwie. Er wußte nicht wie. Vielleicht würde er das nie erfahren.
«Wo bist du?» Die Stimme in seinem Ohr knackte.
«Häh?»
«Ich seh dich nicht mehr», sagte Gus. «Wird Zeit, daß wir wieder wechseln.»
Geordie schaute sich um. Er hatte sich von Norman, dem Mädchen und Woolworths immer weiter entfernt und war jetzt fast schon wieder beim Büro. «Keine Ahnung», sagte er. «Ich hab nachgedacht. Wo bist du?»
«Mein Gott», stöhnte Gus. «Himmel.»
Geordie wartete. Aber Gus sagte nichts mehr.
«Verstanden», sagte Geordie.
Dann war Gus’ Stimme wieder in Geordies Ohr, aber er sprach nicht mit Geordie. Nicht wirklich. Geordie merkte das. Gus führte mal wieder Selbstgespräche. «Spazier ruhig weiter», sagte er. «Mein Gott. Wenn du etwas erledigt haben willst, mach’s lieber allein.»
Vielleicht redete er in sein Diktiergerät? Gus besaß ein Diktiergerät, das er als eine Art Tage- und Notizbuch benutzte. Er schrieb nie mehr etwas auf, es sei denn, er setzte den Abschlußbericht für einen Klienten auf, der dann normalerweise von Celia abgetippt wurde. Geordie überlegte, daß er sich demnächst auch ein Diktiergerät zulegen könnte. War viel einfacher, als alles aufzuschreiben. ’ Besonders, wenn man keinen Kuli finden konnte.
Geordie nahm den Kopfhörer ab und ging ins Büro hinauf.
Leer. Eine Nachricht von Sam, daß er ans Meer gefahren war. Keine Spur von Barney. Wahrscheinlich paddelte er gerade irgendwo herum.
Kapitel 16
Um halb acht am nächsten Morgen brach Sam nach Leicester auf. Machte sich auf die Suche nach Schneewittchen. Mal sehen, ob sie gefunden werden wollte.
Der Doppelmord beherrschte die Nachrichten. In Haxby, einem Vorort von York, war ein Ehepaar gefunden worden: sie gefesselt, geknebelt und erstickt, er mit einem Genickschuß hingerichtet. Jemand hatte ziemlich ungeschickt versucht, es aussehen zu lassen, als habe der Mann sich selbst erschossen. Aber da hätte er schon ein Schlangenmensch sein müssen. Vom Arbeitsplatz des Mannes, einem Waffengeschäft, war eine große Anzahl Schußwaffen verschwunden. Sam kannte den Laden. Er war noch nie selbst drin gewesen, wußte aber, wo er lag. Die Polizei ging mehreren Spuren nach, doch bislang war noch niemand verhaftet worden.
Sam lächelte. Seiner Erfahrung nach war die Polizei von York nicht mal in der Lage, einen Frontalzusammenstoß zweier Skateboards zu untersuchen und zu einem Ergebnis zu gelangen. Trotzdem klang es nach einer ziemlich üblen Sache, diese Morde, wie das Werk von jemandem, der es ausgesprochen ernst meinte.
Die restliche Fahrt auf der Mi war er mit Gedanken an Jennie Cosgrave beschäftigt. Am Ende war es gestern doch noch ganz interessant geworden, auch wenn es immer wieder zu kleinen Mißverständnissen kam. Beide hatten sich gelegentlich in die Defensive gedrängt gefühlt, und obwohl sie sich immer wieder daraus hervorgearbeitet hatten, konnte dies doch nicht verhindern, daß sie an der nächsten Ecke schon wieder aneinandergerieten.
Er dachte: Scheiße, sei einfach ganz locker und amüsier dich. Sie dachte: Ich muß wissen, wer du bist und woher du kommst, bevor ich mich entspannen kann. Und sie verstrickten sich immer tiefer. Am Ende des Tages konnte er sich des Eindrucks nicht erwehren, daß sie es mehr genossen hatte als er. Sie schien Konflikte zu brauchen, verlangte ständig mehr, erging sich in langen Analysen seiner Aussagen und gestand ihre eigenen Schwächen ein. Sagte schließlich irgendwas, das zu einem weiteren Mißverständnis führte, und alles fing wieder von vorne an. Sie war intelligent, clever, scharfsinnig, redete pausenlos und alles andere als langweilig. Aber Sam wollte sie einfach nur riechen, ganz nah an sie rankommen und mal richtig an ihr schnuppern.
Hätte es ihr einfach sagen sollen, schimpfte er mit sich. Dann hätten wir darüber ausführlich diskutieren können, und am Ende hätte sie ihn vielleicht gelassen.
«Es hat
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