Voll erwischt
wedelte ihr mit dem Foto zu. «Haben Sie was dagegen, wenn ich das hier behalte?»
«Nehmen Sie’s», antwortete sie. «Allerdings hätte ich es gern zurück, wenn Sie es nicht mehr benötigen.» Louise schüttelte den Kopf. «Sie ist ja nur meine Schwester», meinte sie voller Ironie. «Ich weiß überhaupt nichts über sie.»
«Was ist mit Selinas Mann?» erkundigte sich Sam. «Sie wissen nicht zufällig, wie er heißt?»
«Oh, doch, das weiß ich», sagte Louise. «Ich habe sie gefragt, als sie anrief. Er heißt Crumble.» Sie lachte, und das fischige Aussehen verschwand. «Einen solchen Namen vergißt man nicht so schnell», sagte sie. «Mr. Crumble. Also heißt sie heute Mrs. Selina Crumble. Hilft Ihnen das, sie ausfindig zu machen?»
«Wahrscheinlich», sagte Sam. «Wenigstens ist es ein Anfang. Sie wissen nicht zufällig auch noch, was er beruflich macht, dieser Mr. Crumble?»
«Er ist Rechtsanwalt», antwortete sie. «Ich erinnere mich, daß wir uns manchmal darüber lustig gemacht haben. Sie wissen schon, Crumble, Crumble und Crumble.» Sie lachte wieder. «Genügt das?»
«Ja», sagte Sam. «Jetzt dürfte es kein Problem mehr sein.»
Sie begleitete ihn zur Tür und verabschiedete sich mindestens zehnmal von Barney. Zu Sam sagte sie: «Wenn Sie sie finden, erinnern Sie sie doch bitte daran, daß sie auch noch eine Familie hat.»
Kapitel 17
Kurz nach sechs Uhr abends war Sam wieder zu Hause. Er hatte im Stau auf der Umgehungsstraße gesteckt, weil die Polizei an allen Ausfahrten Straßensperren errichtet hatte. Er saß vor dem Foto, auf dem Schneewittchen fünfzehn war. Ein unscharfer Schnappschuß in Schwarzweiß eines dünnen Mädchens neben einem Gartenschuppen mit einem zerbrochenen Fenster. Ihr Mund war geöffnet, und offensichtlich rief sie irgend etwas demjenigen zu, der die Aufnahme machte. Wollte vielleicht, daß er aufhörte.
Sie war in diesem Alter, in dem man das Kind nicht mehr erkennen konnte, weil es bereits fort ist, aber auch nicht die Frau, weil sie noch nicht da ist. Unsichtbar. Merk dir das für später und erzähl’s Geordie und Celia. Besonders Geordie. Er war im Augenblick vom Thema Unsichtbarkeit fasziniert. Seit Celia das Gespräch darauf gebracht hatte, redete er von nichts anderem mehr. Sam merkte, daß er wieder an Bronte dachte, an seine eigene Tochter, und wie sie wohl im Alter des Mädchens auf dem Foto ausgesehen hätte, wenn ihr nur noch ein paar Jahre geblieben wären. Sie hätte wie Donna ausgesehen, dachte er. Ein schmales Hemd voller Energie. Anderthalb Handvoll, wie Don-nas Familie immer über sie gesagt hatte.
Und wie würde Donna wohl heute aussehen?
Nein, Scheiße. Er bremste sich. Diesen Weg war er bereits so oft gegangen. Er führte zu nichts. Er führte zu einer steilen Felswand, die senkrecht ins Nichts abfiel.
Sam ging zum Telefon und tippte die Nummer ein. Nach einem Augenblick sagte er. «Wie geht’s Ihnen?»
«Oh, Sam, sind Sie das?» fragte die Stimme von Jennie Cos-grave.
«Ja», sagte er. «Haben Sie schon gegessen?»
«Nein. Ich wollte mir ein Sandwich machen.» Sie schwieg einen Moment. «Ich hab Sie heute vermißt. Wo haben Sie gesteckt?»
«Ich war in Leicester», sagte er. «Detektivarbeit.»
«Haben Sie gefunden, wonach Sie gesucht haben?»
«Erzähl ich Ihnen später», sagte er. «Ich komme gleich vorbei. Es gibt da ein mexikanisches Restaurant, das ich mal ausprobieren wollte. Laute Musik und scharfe Tacos. Das lenkt ab.»
«Klingt fürchterlich», sagte sie.
Vor einigen Monaten, genau am 16. März, dem Jahrestag von Donnas Tod, war die Erinnerung an sie so stark zurückgekommen, daß Sam sich eine Flasche Whisky gekauft und im Verlauf eines flauen Nachmittags geleert hatte. Am gleichen Abend, Donnas Geist immer noch neben sich, war er losgezogen, hatte sich eine weitere Flasche besorgt und die Nacht damit verbracht. Geordie, der über ihm lebte, Sams Wohnung aber immer noch genauso benutzte wie seine eigene, verstand nicht, was los war. Zuerst dachte er, es wäre eine Party angesagt, und genehmigte sich selbst ein paar Schlückchen.
Erst als Sam in den frühen Morgenstunden anfing zu brüllen und zu halluzinieren, verstand Geordie, was wirklich los war. Er rief Celia und Gus an, und die zwei blieben die nächsten paar Tage bei Sam, um ihm zu helfen.
Seitdem war er trocken. Gelegentlich holte er die leere Flasche heraus und trank einen Schluck Luft. Falls er wieder ausrutschen sollte, würde er irgendwohin
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