Voll erwischt
verschwinden. Würde sich verpissen, bis es vorbei war.
Sie trug ein weißes T-Shirt über Jeans, die sie bis zu den Knöcheln aufgekrempelt hatte, dazu weiße Leinenschuhe und eine kleine Umhängetasche. Sie stand am Fenster, sah ihn kommen und hatte das Haus bereits verlassen und die Tür hinter sich geschlossen, bevor er das Törchen erreichte.
«War heute viel unterwegs», erzählte er. «Hätte ich gewußt, daß ich hier landen würde, wär ich schneller gefahren.»
Sie lachte. «Vielen herzlichen Dank, mein Herr, sagte sie.»
«Wir können zu Fuß gehen», schlug Sam vor. «Das El Mexicana liegt nur ein Stück die Straße runter.»
Mehrere Leute unterhielten sich an einer Straßenecke. Eine Frau sagte, sie habe Angst, das Haus zu verlassen. «Aber du bist doch jetzt draußen», erwiderte ihre Nachbarin.
«Dieser Mord», kommentierte Sam, «geht den Leuten an die Nieren.»
«Es ist schon ein komisches Gefühl», sagte sie. «Zu wissen, daß es ganz in der Nähe passiert ist. Wieviel, drei Meilen entfernt? Ich muß immer wieder daran denken, wie diese arme Frau erstickt ist.»
«Einmalig», sagte Sam.
«Was meinen Sie damit?»
«Mord», sagte er. «Mord ist immer einmalig. Es passiert ständig. Jeden Tag wird jemand ermordet, aber wenn wir darüber sprechen, selbst nach all dieser Zeit, ist es wie ein einmaliges Ereignis. Als wäre so etwas noch nie zuvor passiert.»
«Meinen Sie, wir müßten uns inzwischen daran gewöhnt haben?»
«Nein», sagte er. «Ich denke über den Mechanismus nach. Was hält uns so unschuldig, so naiv? So daß wir in der Folge immer unvorbereitet sein werden, immer so überrascht.»
«Es ist viel zu schrecklich, darüber nachzudenken», sagte sie. «Wir distanzieren uns von den Dingen, denen wir uns nicht stellen können, verdrängen sie ins Unterbewußte. Wir weigern uns einfach, uns damit auseinanderzusetzen. Aber wenn dann jemand ermordet wird, ganz besonders, wenn es jemand ist, den wir auch noch kennen, oder wenn es ganz in unserer Nähe passiert, dann müssen wir uns damit befassen. Und wir sind überrascht, weil wir nie zuvor darüber nachgedacht haben. Es wird uns aufgezwungen.»
«Spricht hier der Profi?»
Sie lächelte. «Ja. Das ist mein Job.»
«Hier entlang», sagte er und bog links in eine kurze Zufahrt zum Eingang des El Mexicana ein. Sie betraten einen riesigen Raum mit einer kreisförmigen Theke in der Mitte und Tischen an den Wänden. Es duftete nach würzigen Speisen. Ein Jugendlicher in Jeans und weißer Schürze führte sie an einen Tisch hinter der Theke und sagte etwas, das in der lauten Musik unterging. Auf einer kleinen Bühne sangen zwei Einheimische mit amerikanischem Akzent ein Stück von Neil Young. Hinter ihnen hing ein Wandgemälde, das aus dem Bühnenbild von Zwei glorreiche Halunken abgekupfert war, in helles Scheinwerferlicht getaucht. Trotz der lauten Musik erhob sich von den sechzig oder siebzig Tischen im Raum ein konstantes Stimmengewirr.
«Darf ich Ihnen etwas zu trinken bringen?» fragte der junge Kellner.
Sam sah Jennie fragend an.
«Wie wär’s mit einem Glas Weißwein?» sagte sie.
«Und eine Limonade für mich», sagte Sam.
Als der Junge gegangen war, um ihre Bestellung zu holen, fragte Jennie: «Eine Limonade ?»
«Ich bin Alkoholiker», antwortete er. «Aber ich bin brav.»
Sie hatte den gleichen überraschten Gesichtsausdruck wie jeder, wenn man es erzählte. Ein Ausdruck, der sagte: Was? Wie? Ein Ausdruck, in dem so viele Fragen lagen, daß man am liebsten einen Rückzieher gemacht und sich ein Gläschen genehmigt hätte. Entweder würde sie jetzt sofort etwas dazu sagen oder aber später darauf zurückkommen. Er hoffte nur, daß sie nicht jetzt sofort etwas dazu sagte und später darauf zurückkam, von da an bis in alle Ewigkeit darauf zurückkommen würde. Manche Leute wollten nie über etwas anderes sprechen.
«Sie sehen mich an», sagte sie, «und verraten nichts. Sie sind absolut unergründlich. Ich weiß nicht, was Sie jetzt von mir erwarten.»
Er zuckte die Achseln, wich ihrem Blick nicht aus. «Ich habe das Rauchen aufgegeben», sagte er. «Endgültig. Glaube kaum, daß ich noch mal eine rauche.»
Sie schüttelte den Kopf und beugte sich über den Tisch zu ihm vor. «Sie denken wahrscheinlich, so würden Sie mich nicht überfordern», sagte sie. «Aber in Wahrheit ist es einschüchternd.»
«Wenn ich erst mal anfange zu trinken, höre ich nicht mehr auf», sagte er. «Ich bin abhängig. Wenn ich
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