Voll gebissen
musste es ähnlich gegangen sein. Es klingelte zur Pause und ich verließ das Klassenzimmer.
Plötzlich packte mich eine Pranke an der Schulter und drückte fest zu.
„Emma“, sprach mich eine tiefe, raue Stimme an und ich zuckte entsetzt zusammen.
Scheiße! Das war Kyle! An den hatte ich ja gar nicht mehr gedacht. Schüchtern drehte ich mich herum, den Kopf schon so weit wie möglich eingezogen, dass ich mir bereits vorkam, wie eine dicke Schildkröte. Doch sicher war sicher.
Ich sah Kyle an und wartete darauf, dass die Pranke, die mich momentan noch an der Schulter fasste, mir gleich mit einem Wusch meinen Schädel von denselben fegen würde. Seltsamerweise lächelte er mich aber an. Und es war ausnahmsweise nicht die Art von Lächeln, die Kyle kennzeichnete, wenn er sich darauf freute, jemanden weh tun zu können. Nein, es war ein nettes Lächeln.
Verwirrt zog ich die Augenbrauen nach oben. „Ja?“, fragte ich zaghaft. Immer noch Angst, dass ich gleich zermatscht auf dem Fußboden liegen würde und der Hausmeister kommen müsste, um mich abzukratzen.
„Du , Emma“, Kyle räusperte sich, „ich muss mit dir über gestern reden.“
Aha. Reden nannte man das also heutzutage. Ich schloss die Augen und hoffte, dass es dann nicht ganz so weh tun würde, was ja eigentlich unsinnig war, doch ich fühlte mich so besser.
„Emma? Würdest du mich bitte ansehen?“
Bitte?! Ich öffnete ein Auge, immer noch der festen Überzeugung, dass ich gleich nach allen Regeln der Kunst die Fresse poliert bekäme, wie man so schön sagte, doch Kyle hatte das offensichtlich nicht vor.
„Also, ich äh … ich wollte mich bei dir entschuldigen“, sagte er leise und sah dabei so reumütig aus, wie ein Hund, der eine Wurst vom Tisch geklaut hatte.
I ch konnte nicht glauben, dass das tatsächlich Kyle war. Nun öffnete ich mein zweites Auge auch noch und starrte ihn an. Offenbar sah ich so ungläubig aus, dass Kyle erneut das Wort ergriff.
„Im Ernst , Emma. Ich hab keine Ahnung, was da in mich gefahren ist. Manchmal hab ich mich eben schlecht unter Kontrolle, wenn es um so eine attraktive Frau geht. Aber du musst mir glauben, wenn ich dir sage, dass es mir wahnsinnig leid tut und sowas nie wieder vorkommen wird.“
Ich nickte. Natürlich würde das nie wieder vorkommen. Aber nicht, weil Kyle mir das soeben versprochen hatte, sondern weil ich ihm nie wieder die Chance dazu geben würde. Ich hatte zwar realisiert, dass Kyle mich attraktiv genannt hatte, aber das ging spurlos an mir vorüber. Es hatte nicht ansatzweise die Wirkung auf mich, wie bei Liam damals. Im Nachhinein konnte ich sowieso nicht verstehen, wie ich auf die wahnwitzige Idee gekommen war, mit Kyle irgendwo hin zu gehen. Diesem Blender!
„Also, bist du mir nicht mehr böse?“
„Was ist mit deiner Nase?“, schoss es aus meinem Mund.
Ich weiß, ziemli ch dämlich von mir, ihn ausgerechnet jetzt darauf aufmerksam zu machen, wo er sich doch grad bei mir entschuldigt hatte, doch Kyles Nase sah völlig normal aus. Ich schaute genauer hin.
„Was ist?“, fragte Kyle mit einem leichten Lächeln.
„Deine Nase sieht völlig normal aus.“
„Warum sollte sie nicht?“, fragte er.
„Weil sie gebrochen war?!“
Kyle lachte. „Nein, war sie nicht.“
„Natürlich war sie das.“
„Nein, war sie nicht“, wiederholte er.
„Doch! Ich hab es krachen gehört“, hielt ich weiterhin dagegen.
Kyle schüttelte den Kopf und nahm meine Hand. „Emma, schau dir deine zierlichen Hände an. Glaubst du wirklich, du könntest mir damit die Nase brechen?“
Ich sah auf meine Hände hinunter und dann wieder Kyle an.
„Aber … aber du hast geblutet.“ Meine Stimme klang nun nicht mehr ganz so sicher.
Er machte eine abwertende Handbewegung. „Du hattest mich vermutlich so unglücklich getroffen, dass ein Äderchen geplatzt ist. Aber meiner Nase geht’s gut. Ehrlich.“ Wieder ein Lächeln.
Nun ja, ich musste mich wohl geirrt haben. Wenn ich ihm tatsächlich die Nase gebrochen hätte, könnte er erstens nicht so unversehrt vor mir stehen und zweitens hätte er mir mit Sicherheit jetzt auch was gebrochen, anstatt sich zu entschuldigen. Wie es schon in der Bibel stand: „Auge um Auge, Zahn um Zahn“, und in Kyles Fall eben „Bruch um Bruch“.
„Ist angenommen“, sagte ich kurzerhand und wandte mich um zum Gehen.
„Vielleicht darf ich dich als Entschädigung nochmal auf einen Kakao einladen?“, rief er hinter mir her.
„Vielleicht“, entgegnete
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