Vollbeschaeftigt - das neue deutsche Jobwunder
zehn Millionen Vertriebene für Arbeit bereitstanden und integriert werden mussten. Allerdings gab es politisch den gewaltigen Unterschied, dass diesmal ein Territorium – der Osten – vorhanden war, dessen Wiederaufstieg (und nicht der des Westens!) für die nötigen Arbeitsplätze sorgen sollte. Also diesmal: Aufbau Ost und nicht wie damals Erweiterung West. Klar war dabei auch, dass selbst bei erfolgreichem Aufbau Ost die latente Ost-West-Mobilität der Menschen dafür sorgte, dass es in Ost und West auf Dauer keine wirklich eigenständigen Arbeitsmärkte mehr geben würde. Hessen und Thüringen lagen geografisch plötzlich genauso nah beieinander wie Hessen und Niedersachsen. 32
Wohlgemerkt: Auch im Osten gab es eine Babyboomer-Generation mit ganz ähnlicher demografischer Struktur wie im Westen. In gewisser Weise erlebte die deutsche Marktwirtschaft deshalb – zeitlich gestreckt – die Ankunft zweier Generationen von Babyboomern: zunächst die westdeutschen, die bis 1990 auf den (westdeutschen) Arbeitsmarkt strömten, und dann ab 1990 die ostdeutschen, die im Schatten der Mauer zwar in die (ostdeutsche) Planwirtschaft hineinwuchsen, aber dabei mit einer Beschäftigung versorgt wurden, die sich unter marktwirtschaftlichen Bedingungen zu großen Teilen als nicht nachhaltig erwies. Dies war in Europa (und weltweit) eine einmalige Situation. Wie wir noch sehen werden, hilft sie zu erklären, warum die deutsche Entwicklung in den darauffolgenden zwei Jahrzehnten anders verlief als im Durchschnitt der westlichen Industrieländer, die ja auch fast alle seit 1973 mit Arbeitslosigkeit zu kämpfen hatten.
Im Übrigen war es nicht nur die Wiedervereinigung, die das Potenzial an Arbeitskräften in Deutschland in den frühen 1990er-Jahren ausweitete. Es fiel gleichzeitig der „Eiserne Vorhang“, der Europa ideologisch und politisch geteilt hatte, und für einige Jahre kam es im Osten des Kontinents zu massiven politischen und wirtschaftlichen Umwälzungen. Viele ethnische Deutsche, die vor allem in der früheren Sowjetunion und in Rumänien gelebt hatten, nutzten deshalb die Gelegenheit, ihren rechtlichen Anspruch auf Zuwanderung nach Deutschland geltend zu machen. 33 Es ging dabei um etwa 1,3 Millionen Personen 34 , die in den 1990er-Jahren aus Russland und Rumänien sowie Polen und anderen Ländern kamen und mit ihren Familien vor allem in die industriellen Kernregionen Süddeutschlands übersiedelten. Neben den üblichen „natürlichen“ Entwicklungen der deutschen Bevölkerung – unter anderem Veränderungen der Altersstruktur und der Erwerbsbeteiligung von Frauen – ist gerade diese Zuwanderung ethnischer Deutscher dafür mitverantwortlich, dass die Zahl der Erwerbspersonen auch seit 1990 nochmals deutlich und nachhaltig zunahm, und zwar insgesamt um weitere drei Millionen Menschen. Das „Arbeitsangebot“ hat in Deutschland deshalb wohl erst in allerjüngster Zeit mit rund 43 Millionen Erwerbspersonen seinen Höhepunkt erreicht.
Aus alledem lässt sich eines zweifelsfrei feststellen: Deutschland hatte seit Mitte der 1970er-Jahre eine außergewöhnlich anspruchsvolle Aufgabe der Integration am Arbeitsmarkt zu bewältigen. Von 1973 bis 1991 waren es in Westdeutschland zusätzlich rund 4,8 Millionen Erwerbspersonen, 35 seit 1991 in Gesamtdeutschland rund 2,6 Millionen, und im Sprung von West- zu Gesamtdeutschland etwa 8,7 Millionen, die hinzukamen – dies natürlich zusammen mit einem Territorium, dessen industrielle und infrastrukturelle Substanz allerdings in einem jämmerlichen Zustand war. Insgesamt ging es also, je nachdem, wie man rechnet, um ein zusätzliches Potenzial von 7,4 Millionen (ohne Ostdeutsche) beziehungsweise 16,1 Millionen (mit Ostdeutschen), also fast 30 beziehungsweise 60 Prozent der Zahl der westdeutschen Erwerbspersonen in den frühen 1970er-Jahren. Wie auch immer man rechnet: Es ist eine Dimension, die sich mit den Integrationsaufgaben klassischer Einwanderungsländer wie Australien, Kanada und den Vereinigten Staaten durchaus messen lässt. Jedenfalls liegt sie weit über dem, was andere westeuropäische Länder im selben Zeitraum am Arbeitsmarkt zu bewältigen hatten.
Nachfrage
Kommen wir nun zur „Arbeitsnachfrage“, also zu den Arbeitsplätzen, die in der Zeit seit 1973 von der Wirtschaft geschaffen beziehungsweise beseitigt wurden. Deren Entwicklung folgt im Grunde zwei sehr unterschiedlichen Mustern: zum einen die kurzen, dramatischen und zum Teil spektakulären Krisen, die
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