Vollbeschaeftigt - das neue deutsche Jobwunder
wirkliche Marktmacht mehr besaßen, egal wie gut organisiert sie waren. Dies gilt für die Gewerkschaften, aber mindestens genauso für die Arbeitgeberverbände. Bei mehr als 20 Prozent Unterbeschäftigung hatte der einzelne industrielle Arbeitgeber in Ostdeutschland nicht die geringste Mühe, sich eine Belegschaft aus qualifizierten Facharbeitern zusammenzustellen, und zwar ohne jeden Gewerkschaftseinfluss. Denn die klassische Gewerkschaftsklientel des Westens, die Facharbeiter, war in Massen arbeitslos und insofern wenig geneigt, für eine aggressive Lohnpolitik ihre Chancen zu mindern, wieder eine Beschäftigung in der Industrie zu finden.
Ostdeutschland wurde somit zu einem merkwürdigen Präzedenzfall: Selbst die mächtigste Gewerkschaft der Welt, die deutsche IG Metall, war kaum mehr in der Lage, eine Massenbewegung für ihre Belange zu organisieren. Ihre Macht schwand dahin. Spätestens im Frühjahr 2003 wurde dieser Machtverlust auch der IG Metall selbst und der breiteren Öffentlichkeit bewusst. Mit überwältigender Mehrheit und mit hoher Wahlbeteiligung beschlossen die Mitglieder der IG Metall damals einen Streik zur Einführung der 35-Stunden-Woche in Ostdeutschland. Sie versuchten einfach, auch im Osten das nachzuholen, was ihnen fast 20 Jahre zuvor im Westen so eindrucksvoll gelungen war. Nach mehreren Wochen musste dieser Streik abgebrochen werden, weil es vor Ort an der nötigen Unterstützung der Arbeiterschaft fehlte. Auch in der öffentlichen Meinung gab es kaum Verständnis für das gewerkschaftliche Anliegen, das bei der hohen Arbeitslosigkeit im Osten eher als Luxus denn als legitimes Ziel angesehen wurde.
Es spricht vieles dafür, dass diese Entwicklung in Ostdeutschland tiefe Rückwirkungen auch auf den Westen hatte. Immerhin macht das Territorium der fünf neuen Länder (plus Berlin) etwa ein Drittel der Fläche des wiedervereinigten Deutschlands aus, und etwa ein Fünftel seiner Bevölkerung. Nach allen Maßstäben ist der Osten eine Region ohne spürbaren Einfluss der Gewerkschaften geworden, mit einem Lohnniveau, das in der Industrie auch heute noch um ein Drittel niedriger liegt als im Westen. Es ist damit im eigenen Land eine permanente Standortkonkurrenz für industrielle Ansiedlungen entstanden, die insgesamt das Lohnniveau nach unten drückte. Sie hat dafür gesorgt, dass auch im Westen die Tarifabschlüsse über einen langen Zeitraum recht moderat ausgefallen sind und neue Instrumente der betrieblichen Flexibilität zur Anwendung kamen. Die besonders deutliche Senkung der (realen) Lohnstückkosten in den letzten beiden Jahrzehnten (siehe Schaubild 8b ) lässt sich zu einem großen Teil durch diese besondere deutsche Situation erklären.
So weit unsere Zwischenbilanz zur Liberalisierung des Arbeitsmarkts in der Zeit der hohen Arbeitslosigkeit. Es bleibt die Frage: Wie weit ging der Erfolg dieses teils politisch gewollten, teils durch Marktkräfte erzwungenen Wandels des deutschen Wirtschaftssystems, der sozialen Marktwirtschaft? Natürlich können wir niemals genau wissen, was gewesen wäre, hätte es die Liberalisierung nicht gegeben. Gleichwohl ist zumindest eine plausible spekulative Antwort auf die Frage möglich. Sie lautet: Die Veränderungen halfen, das Lohnniveau und die Lohnstruktur flexibler zu machen; sie halfen damit auch, mehr Beschäftigung zu schaffen; aber sie sorgten nicht dafür, dass die Arbeitslosigkeit insgesamt wirklich abnahm. So gelang es in den späten 1970ern, in der zweiten Hälfte der 1980er-Jahre und dann auch wieder in den späten 1990ern durchaus, wie wir gesehen haben, neue Arbeitsplätze entstehen zu lassen, und zwar auch in der Industrie. Aber die Dynamik am Arbeitsmarkt reichte insgesamt nicht aus, um die Arbeitslosigkeit nachhaltig zu senken.
Der Hauptgrund dafür lag in einer Art Zweiteilung des Arbeitsmarktes, die sich in jeder der drei konjunkturellen Erholungsphasen zeigte. Ein Teil der Erwerbslosen – tendenziell die jüngeren und besser ausgebildeten – fand wieder den Weg in die Beschäftigung, aber ein anderer Teil bildete eine Art Sockel der Langzeitarbeitslosigkeit, der überhaupt nicht mehr zu verschwinden schien. Dieses Schicksal traf insbesondere ehemalige Arbeiter und Angestellte der Industrie, die aufgrund mangelnder Qualifikation nur wenig Möglichkeiten hatten, in Dienstleistungsberufen gegenüber einer jüngeren Generation besser ausgebildeter Bewerber konkurrenzfähig zu sein. Aus diesen Gründen nahm der Anteil der
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