Vollbeschaeftigt - das neue deutsche Jobwunder
Langzeitarbeitslosen an der gesamten Arbeitslosigkeit – bei kräftigen konjunkturellen Schwankungen – im Trend deutlich zu, und zwar in Westdeutschland in der Zeit von 1975 bis 1990 und im wiedervereinigten Deutschland von den frühen 1990er-Jahren bis 2007, wobei diese Steigerung vor allem durch die Zunahme im Osten bedingt war ( Schaubild 10 ).
Am besten lässt sich die Zweiteilung des Arbeitsmarkts im Bild zweier Schlangen von Bewerbern vor einem Werkstor fassen. Da sind die „Alten“, also die Generation der traditionellen Industriearbeiter, und die „Jungen“, die Generation der Babyboomer; und bei Neu- oder Wiedereinstellungen werden die „Jungen“ den „Alten“ systematisch vorgezogen, weil sie – tatsächlich oder vermeintlich – in einer Reihe struktureller Merkmale überlegen sind: Alter, Ausbildung, Beweglichkeit, Gesundheit, Motivation und vielem mehr. Die gestärkte Flexibilität am Arbeitsmarkt und die moderaten Lohnabschlüsse nützen deshalb vor allem den „Jungen“, geben ihnen bessere Einstiegschancen. Mehr von ihnen werden integriert, und die „Alten“ verbleiben als eine Gruppe von Langzeitarbeitslosen, die dann durch den fortwährenden Zustand der Erwerbslosigkeit den Kontakt zum Arbeitsmarkt noch mehr einbüßt. Der Antrieb zur Jobsuche lässt nach vielen Frustrationen nach, das physische und kognitive Training flaut ab, die berufliche Erfahrung veraltet, und die Arbeitgeber selbst deuten die Länge der Arbeitslosigkeit als Indikator für die Untauglichkeit der Bewerber. Eine Art selbststabilisierende Auslese findet statt. Die Folge: Der Arbeitsmarkt spaltet sich auf und bleibt auf Dauer zweigeteilt, trotz konjunktureller Erholung und deutlichem Beschäftigungsanstieg.
Natürliche Arbeitslosigkeit?
Über die Mühen der Wirtschaftswissenschaft, die Welt zu erklären
Es war ein völlig neues Phänomen: Die Arbeitslosigkeit stieg in der Rezession ruckartig an, ging aber in der anschließenden Erholung nicht mehr auf das alte Niveau zurück. So lag in Westdeutschland die Arbeitslosenquote 1973 bei einem Prozent, 15 Jahre später, 1988, bei neun Prozent, beides unter normalen konjunkturellen Bedingungen. In fast allen anderen europäischen Industrieländern gab es einen ähnlichen Sprung.
Die Aufregung in der Wissenschaft war groß. Irgendetwas hatte sich im Arbeitsmarkt grundlegend verändert. Aber was? In jedem Fall etwas, das damals in der Wirtschaftstheorie nicht zu finden war. Denn die unterstellte, dass es eine Art „natürliche Arbeitslosigkeit“ gibt, die sich einstellt, sobald eine Volkswirtschaft einen konjunkturellen Normalzustand erreicht. Die Höhe dieser Arbeitslosigkeit bestimmten die üblichen Marktfriktionen: Arbeitslose brauchen Zeit, um passende Jobs zu finden, und sie erhalten in dieser Zeit eine Unterstützung aus öffentlichen Kassen. Es ist deshalb völlig normal, eben „natürlich“, dass sich ein bestimmter Anteil der Erwerbspersonen auf der Suche befindet. Das Rätsel hieß damit: Warum sollte dieser Anteil dramatisch zugenommen haben, auch wenn sich die Konjunktur vollständig erholt hat?
Es begann in der Wissenschaft eine intensive Suche nach den Gründen für die Asymmetrie der Entwicklung. Es schälte sich bald ein Konsens heraus, zumindest in den zentralen Punkten. Danach verfestigt sich eine einmal vorhandene hohe Arbeitslosigkeit in zwei Stufen. Zunächst verlieren Arbeitslose aufgrund der Länge der Arbeitslosigkeit den Kontakt zum Markt; ihre Motivation zur Suche flaut ab, ihre physische und kognitive Belastbarkeit lässt nach; sie erhalten von Arbeitgebern gerade wegen der Länge ihres Suchens das Stigma „nicht leistungsfähig“. Kurz: Sie werden „Outsider“. Als solche verlieren sie – die zweite Stufe – ihren mäßigenden Einfluss auf die Lohnabschlüsse: Sie sind effektiv keine wirksame Konkurrenz mehr für die beschäftigten „Insider“, deren Arbeitsplätze mit der konjunkturellen Erholung ohnehin immer sicherer werden. Es kommt deshalb zu kräftigen Lohnerhöhungen, die dann durchaus auch im Interesse der Arbeitgeber liegen, da die Motivation der Insider für sie wichtiger wird als der mögliche Rückgriff auf die weniger leistungsfähigen Outsider.
So weit die weithin anerkannte Diagnose. Sie kann im Einzelnen mit ganz unterschiedlichen Theorien der Arbeitsmarktökonomik unterfüttert werden – die Wissenschaft kennt unter anderem Effizienzlohn-, Kontrakt-, Humankapital-, Insider/Outsider- und Hysterese-Modelle. Die
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