Vollbeschaeftigt - das neue deutsche Jobwunder
Frage aufgeworfen, ob nicht häufig genau das Gegenteil zu beobachten ist. Inzwischen, weitere 20 Jahre später, hat sich dieser Verdacht erhärtet: Einige große, bevölkerungsreiche Entwicklungs- und Schwellenländer, allen voran China und seine südostasiatischen Nachbarnationen, weisen große und lang andauernde Überschüsse in ihren Leistungsbilanzen auf, sind also Kapitalexporteure. Viele weitere Nationen, die ihr Aufholpotenzial erfolgreich nutzen und schnell wachsen, haben zwar keine hohen Leistungsbilanzüberschüsse, sind aber auch weit entfernt vom Ausmaß der strukturellen Defizite, das die traditionelle Theorie suggeriert.
Mit etwas Mut zur Vereinfachung lässt sich heute eigentlich schon von einer typischen Entwicklungsstrategie sprechen, der viele erfolgreiche Schwellenländer folgen. Nennen wir diese das „Überschussmodell“. Es besteht darin, ein Spektrum von Industrien aufzubauen, die in die globalen Märkte hineinwachsen und für eine zunehmende Handelsintegration des Landes sorgen, mit einer starken Exportbasis im verarbeitenden Gewerbe. Dabei ist der Prozess im Wesentlichen durch die Signale des Weltmarkts gesteuert, wird aber häufig durch technologie-, industrie- und handelspolitische Initiativen des Staates gestützt und ein Stück weit gelenkt. Die Entwicklungsstrategie ähnelt dabei jenen großen Industrieländern, die – als Nachzügler zu Großbritannien – im 19. und 20. Jahrhundert eine nachhaltige industrielle Basis aufbauten, allen voran die Vereinigten Staaten, Deutschland und später Japan. Auch die Parallelen zum Wiederaufstieg der westdeutschen Wirtschaft in den 1950er-Jahren sind nicht zu übersehen. Es gab natürlich auch Versuche, den ganz anderen Weg zu gehen, gewissermaßen das „Defizitmodell“, also über lange Zeit Import von Kapital und Hinnahme hoher Leistungsbilanzdefizite; aber diese Versuche sind mit einer gewissen Regelmäßigkeit gescheitert. Es kam in mächtigen Wellen zu schweren Krisen der Kapitalflucht, in die zunächst lateinamerikanische Länder in den 1980er- und frühen 1990er-Jahren und dann einige südostasiatische Schwellenländer ab 1997 hineinrutschten. Die Bilanz dieser Art von Politik war jedenfalls fast durchweg ernüchternd. 80
Wieso ist das Überschussmodell so dominierend geworden? Sein Erfolg reicht als Antwort nicht aus, denn der war nicht von vornherein vorauszusehen. Die Frage lässt sich ohne spekulative Erwägungen auch heute noch nicht klar beantworten. Indizien sprechen allerdings für eine Art systematisches „Risikoproblem“, das dem institutionellen Umfeld vieler Schwellenländer anhaftet. 81 Anscheinend eilt das schnelle Wirtschaftswachstum dem Aufbau vertrauenswürdiger – und damit risikosenkender – gesellschaftlicher Institutionen weit voraus. Die Risikoprämie, die deshalb bei Investitionen zu entrichten ist, fällt relativ hoch aus. Ausländische Sparer aus Industrieländern sind deshalb vorsichtig und halten ihr Kapital zu schneller Kapitalflucht bereit, wenn es denn nötig wird. Selbst inländische Sparer ziehen tendenziell Aktiva aus jenen Industrieländern vor, deren institutionelle Stabilität über Jahrzehnte, wenn nicht Jahrhunderte zu beobachten gewesen ist. Anders ist es schwer zu erklären, warum zum Beispiel in China in großem Stil und über lange Zeiträume niedrig verzinste amerikanische Staatspapiere angehäuft wurden, obwohl die Vereinigten Staaten selbst ein hohes Leistungsbilanzdefizit aufwiesen und eine relativ expansive Geldpolitik betrieben.
Die Erfahrung der letzten Jahrzehnte lässt also eigentlich nur eine Schlussfolgerung zu: Ein typischer Wachstums- und Aufholprozess in Schwellenländern ist nicht mit einem Investitionsvolumen verbunden, das von außen finanziert werden muss. Offenbar sind die betreffenden Schwellenländer sehr wohl in der Lage, ihren Investitionsbedarf durch ihre eigenen Ersparnisse zu decken. Mehr als das: Sie nutzen bei zügigem Wirtschaftswachstum ihre gleichfalls schnell wachsenden Ersparnisse, um trotz hoher Investitionen im Inland ausländische Aktiva zu erwerben, und zwar vornehmlich in hoch entwickelten Industrieländern mit hoch entwickelten Rechtssystemen und bewährten Institutionen.
Wird dies in der Zukunft so bleiben? Die Frage ist ohne spekulative Überlegungen nicht zu beantworten, denn sie verlangt eine Prognose über die künftigen Entwicklungen der Institutionen von Ländern, die sich wirtschaftlich und gesellschaftlich überaus rasch verändern.
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