Vollbeschaeftigt - das neue deutsche Jobwunder
Zeit, um den geliebten Hund während des Arbeitstages auszuführen, damit dieser dann am späten Abend und am Wochenende als Freizeitbeschäftigung für die Führungskräfte zur Verfügung steht, gut gepflegt und wohlbehalten. Manche „dog walker“ entwickeln dabei ein beträchtliches organisatorisches Talent als Kleinunternehmer. Sie arbeiten – höchst effizient – wie mobile Sammelstellen: Sie fahren mit dem Wagen von Haus zu Haus, holen die Hunde ab, führen sie in einem städtischen Park aus und bringen sie zurück. Auf dem flachen Land sind solche Dienstleistungen dagegen kaum gefragt, und zwar nicht, weil es keine Hunde gibt (es gibt pro Kopf weit mehr als in der Stadt!), sondern weil die Besitzer selbst zumeist über genügend Zeit verfügen, den Hund auch während der Woche selbst auszuführen. Oder es gibt dort genug freundliche Nachbarn, die das tun, und zwar ohne Servicevertrag und Honorierung.
Wichtig ist dabei: Der „dog walker“ ist kein alter, sondern ein hochmoderner Beruf. Er entstand erst durch die Knappheit der Zeit in den Zentren, und zwar in einer kapitalistischen Welt, in der selbst wohlhabende Familien oft nicht mehr wie früher über eine festangestellte Dienerschaft verfügen, die solche Aufgaben am Rande der Haushaltsführung mit erledigen kann. Analoges gilt für Berufe wie Haushaltsgehilfen und Hausgärtner. Diese sind Teil jener modernen Wirtschaft persönlicher Dienstleistungen, die sich entwickelt, wenn die Zeit extrem knapp wird und ein Rückgriff auf traditionelles Personal (oder die Ehepartner, gleich welchen Geschlechts) unmöglich ist.
Genau dies wird in Deutschlands Zukunft der Fall sein. Die privaten Haushalte der Kreativen stehen nämlich bei der Organisation ihres Lebens vor einem ernsten Problem: Es fehlt an Personal. Im Ergebnis könnte es gar zu einem Boom der Nachfrage nach einfachen persönlichen Dienstleistungen kommen. Genau darin liegt eine große Chance für diejenigen, die den Zug der formalen Bildung verpasst haben. Ihr Schicksal bleibt natürlich alles andere als beneidenswert. Denn auch wenn sie schließlich ebenfalls von der Vollbeschäftigung profitieren, so tun sie es nur als Derivat einer Entwicklung, deren Dynamik irgendwo ganz anders liegt. Auch wenn sich ihre Marktlage verbessert, werden wohl die meisten von ihnen keinen großen gesellschaftlichen Aufstieg erleben. Um das zu schaffen, braucht es weiterhin vor allem eines: Bildung.
2.4 Der Preis der Energiewende
Seit der Industrialisierung hatte jede beschleunigte Wachstumsphase der deutschen Wirtschaft mindestens einen Branchenschwerpunkt. Zwischen 1850 und 1870 war es der Eisenbahnbau, zwischen 1890 und 1914 die Chemie und Elektrotechnik, zwischen 1950 und 1973 der Automobil- und Maschinenbau. Kennzeichnend für diese Schwerpunkte war allerdings, dass sie sich im Wesentlichen aus einer marktgetriebenen Entwicklung ergaben: Die entsprechenden Branchen nutzten die Chancen, die der technische Fortschritt in den Welt- und Binnenmärkten eröffnete, zur nachhaltigen Expansion. Diese wurde vorbereitet und begleitet durch eine Bildungs- und Wissenschaftspolitik, die dafür sorgte, dass das nötige Fachpersonal möglichst reichlich vorhanden war. Und sie wurde befördert durch einen Ausbau einer Infrastruktur, der die industrielle Erschließung unterstützte, von Verkehrswegen bis zu Versorgungs- und Kommunikationsnetzen. Eine gezielte massive Förderung der Branchen durch das, was wir heute Technologie- und Industriepolitik nennen, fand in der Regel nicht statt.
Indes gilt: Keine Regel ohne Ausnahmen, und die gab es auch in der deutschen Wirtschaftsgeschichte. Sie blieben allerdings im Wesentlichen auf jene Phasen beschränkt, in denen weitreichende politische Zielsetzungen die wirtschaftlichen klar dominierten. Dies gilt für die militärische Aufrüstung im Nationalsozialismus genauso wie für die planwirtschaftliche Lenkung in der DDR, wobei in beiden Fällen die Zielsetzungen einen totalitären Charakter hatten. Und es gilt – politisch und humanitär ungleich überzeugender – für die Zeit der Deutschen Einheit nach 1990, als der Wiederaufbau einer leistungsfähigen industriellen Basis im Territorium der ehemaligen DDR im wiedervereinigten Deutschland absolute Priorität hatte und regionale Branchenschwerpunkte der Förderung gezielte und gewollte Berücksichtigung fanden (zum Beispiel das sogenannte Chemiedreieck in Sachsen-Anhalt und die Mikroelektronik im Großraum Dresden). 102
Ausnahmen
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