Vollbeschaeftigt - das neue deutsche Jobwunder
europäischen Peripherie den deutschen Verhältnissen an, zumindest bis zur Jahrtausendwende. Dabei handelte es sich wohl keineswegs um eine statistische Illusion, wenn auch gegenüber einzelnen Datenberechnungen der nationalen statistischen Ämter ein gewisses Misstrauen angebracht ist, eben weil die Konvergenz der Inflationsraten nach dem Maastrichter Vertrag von 1992 politische Bedeutung für die Aufnahme der jeweiligen Länder in die Eurozone hatte. Der allgemeine Trend ist allerdings zu eindeutig, um Ergebnis einer statistischen Täuschung zu sein.
Alles sah also um die Jahrtausendwende nach einer baldigen realen Konvergenz der Pro-Kopf-Einkommen und einer nominalen Konvergenz der Inflationsraten aus. Was dann in den 2000er-Jahren folgte, zerstörte dieses Bild nachhaltig. Es kam nämlich – fast zeitgleich mit der Einführung des Euro – zu einer deutlichen Senkung der (nominalen) Zinsen in den Aufholländern, bei gleichzeitiger Zunahme eines gewissen inflationären Drucks, jedenfalls im Vergleich zu Deutschland, das ja genau in dieser Zeit den Tiefpunkt seiner schwierigen Anpassung am Arbeitsmarkt an die neuen Verhältnisse nach der deutschen Wiedervereinigung durchlebte. 127 Das Ergebnis: Realzinsen, die in der Peripherie über Jahre außerordentlich niedrig ausfielen, noch deutlich niedriger als in Deutschland. Deren Folge: ein Binnenmarktboom, der die Wettbewerbsfähigkeit der weltmarktorientierten Güterproduktion in den betreffenden Ländern aushöhlte. Die Entwicklung der Lohnstückkosten, also des Lohnniveaus im Verhältnis zur Arbeitsproduktivität, belegt dies eindrucksvoll. Sie nahmen im Zeitraum 1999 bis 2008, also von der Einführung des Euro bis zur Weltfinanzkrise, in Deutschland um 2,8 Prozent ab; dagegen stiegen sie in Portugal um 26,2 Prozent, in Griechenland um 32,2 Prozent, in Spanien um 33,5 Prozent und in Irland sogar um 37,7 Prozent. 128 Die Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Peripherie gegenüber dem westlichen Zentrum wurde also Schritt für Schritt ausgehöhlt. Es kam zu großen strukturellen Defiziten in den Leistungsbilanzen der Aufholländer, also zu einer zunehmenden Nettoneuverschuldung im Ausland, wobei die Staatshaushalte (außer in Griechenland) zunächst keineswegs übermäßig große Defizite aufwiesen, weil durch das Wachstum auch die Steuereinnahmen sprudelten. Die übersteigerte Dynamik des Booms kam also vor allem aus dem privaten Sektor.
Schließlich reagierten die Märkte, und zwar im Gefolge der Weltfinanzkrise, die weltweit in den Portfolios der Vermögensanleger eine fundamentale Neu-Evaluierung von Risiken mit sich brachte. 129 Dies geschah überaus schnell und abrupt. Die „Problemländer“ wurden nach dem Platzen der Blasen in ihrer Kreditwürdigkeit drastisch herabgestuft, es kam zu einer dramatischen Zunahme der Zinsspanne zwischen dem stabilen „westlichen Zentrum“ mit Deutschland als Kern und der geografischen Peripherie der Eurozone. Damit war die Eurokrise – oder genauer: die europäische Schuldenkrise – auf der Tagesordnung der Finanzmärkte. Und somit in der Folge auch all jene schwierigen politischen Entscheidungen, die Europa verändert haben: im Mai 2010 die Hilfe für Griechenland (und damit die faktische Missachtung des No-Bail-out-Prinzips des europäischen Stabilitätsvertrags); in den Monaten danach und praktisch über das gesamte Jahr 2011 eine hektische politische Aktivität bis hin zum bisher undenkbaren Aufkauf von Staatsanleihen gefährdeter Länder durch die Europäische Zentralbank; eine Serie von Regierungswechseln jeweils mit Weichenstellung in Richtung strenger Austeritätspolitik. Und schließlich, im Fall Griechenland, ein Teilverzicht von privaten Gläubigern auf die Rückzahlung der Schulden. Wie diese dramatische Wende auch immer ausgehen mag: Sie addiert sich zu einem veritablen Zusammenbruch der Konstellation, die über Jahre geherrscht hatte. Diese erwies sich in den Finanzmärkten offenbar als völlig unhaltbar.
Wen trifft die Schuld für diese Entwicklung? Wie fast immer in der Wirtschaftsgeschichte versagen Versuche, eine einzelne, alles entscheidende Ursache zu identifizieren, die für den Zusammenbruch verantwortlich zu machen wäre. So ist zweifellos die Weltfinanzkrise 2007/08 der entscheidende Auslöser für den Kollaps in Europa gewesen, und insofern sind all diejenigen „schuldig“ an der Entwicklung, die durch ihre politischen und wirtschaftlichen Handlungen die „Great Moderation“ an den
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