Vollbeschaeftigt - das neue deutsche Jobwunder
blauäugige Darstellung mehr in Unwissen und Ahnungslosigkeit als in gezielter Manipulation durch die Politik und die Beamtenschaft. Auch die Expertenmeinung hatte eben offenbar keine Vorstellung davon, was Europa blühen könnte, käme es zu einer globalen Finanzkrise und einer ganz grundlegenden Veränderung der Eckdaten an den Finanzmärkten.
Die damalige Expertenmeinung konnte sich dabei auch getrost auf anscheinend stabile säkulare Trends stützen. Es war nämlich gerade auch die langfristige Wirtschaftsgeschichte, die für die Fortsetzung der Konvergenz sprach. Ein Blick auf die Entwicklung in Spanien, dem größten der nachziehenden Aufholländer des europäischen Südens, gegenüber Deutschland macht dies deutlich. Seit dem späten 19. Jahrhundert war Spanien gegenüber Deutschland zurückgefallen, und zwar kontinuierlich in den Jahrzehnten vor dem Ersten Weltkrieg und dann wieder in den 1950er-Jahren, der Zeit des deutschen Wirtschaftswunders, als Westdeutschland seine ungewöhnlich schwache Wachstumsdynamik der Zwischenkriegszeit hinter sich ließ. Seit etwa 1960, also noch deutlich vor seinem Beitritt zur Europäischen Union, holte Spanien aber kontinuierlich auf. War es nicht höchst plausibel, darin einen stabilen Trend zu erkennen? Greifbar nahe schien das Verschwinden jenes alten Rückstands Spaniens, der sich nach Ende des goldenen 16. Jahrhunderts aufbaute, als die Iberische Halbinsel den kolonialen Zugriff auf die Reichtümer an Gold und Silber in Südamerika nicht genutzt hatte, um seine wirtschaftliche Entwicklung voranzutreiben. 135 Anders als in Nordwesteuropa – zunächst in den Niederlanden, Großbritannien und Frankreich, dann im deutschsprachigen Raum und in Skandinavien – folgte keine beschleunigte Handelsintegration, Industrialisierung und Urbanisierung. Bis eben nach langer Verzögerung der Aufholspurt in den 1960er-Jahren einsetzte. Warum sollte aber dieser Prozess nach 50 Jahren enden, wo er sich doch gerade beschleunigte und die Konvergenz noch nicht ganz erreicht war?
Es gab also wirklich gute Gründe, an die Fortsetzung des Weges zur Konvergenz zu glauben und lange beobachtete Trends einfach fortzuschreiben. Die europäische Schuldenkrise hat diesen Hoffnungen zunächst ein jähes Ende gesetzt. Die Frage ist: Wird es ein Ende auf sehr lange Zeit sein oder nur eine Art vorübergehende Atempause? Geht es also wirklich um zerstörte Illusionen oder nur um eine schnell korrigierte blasenhafte Fehleinschätzung? Um diese Frage zu beantworten, müssen wir etwas tiefer in die bevorstehenden Prozesse der Anpassung und den längerfristigen Strukturwandel hineinblicken. Beides hat große wirtschaftliche und politische Bedeutung für die Zukunft Europas.
Wer nicht mehr über seine Verhältnisse leben will, muss versuchen, zwei Dinge zu tun: mehr zu sparen und mehr zu verdienen. Für eine nationale Volkswirtschaft bedeutet dies: weniger verbrauchen und mehr produzieren. Das heißt konkret: Senkung des privaten Konsums, der Investitionen und der Staatsausgaben sowie Aktivierung der Leistungsbilanz durch Zunahme der Exporte und Abnahme der Importe. Der Weg dahin führt über eine Deflation des inländischen Preis- und Lohnniveaus zur Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit. Verfügt das Land über eine eigene Währung, kann dies durch eine („externe“) Abwertung der Währung zumindest unterstützt werden, denn diese sorgt ruckartig für eine Verbilligung in den Weltmärkten. In einer Währungsunion wie der Eurozone ist das nicht möglich. Dort muss das Ziel durch tatsächliche (also „interne“) Preis- und Lohnsenkungen erreicht werden.
Die Deflation ist ein überaus schmerzhafter, schwieriger und politisch brisanter Prozess. Es geht letztlich darum, durch ein kräftiges Umsteuern die Struktur der nationalen Wirtschaft vom Binnenmarkt hin zum Weltmarkt zu orientieren. Es ist für die betroffenen Länder in Europa eine Art mühsame Rückkehr zur gesamtwirtschaftlichen Nachhaltigkeit: Da die binnenwirtschaftliche Blase geplatzt ist und die vormals aufgeblähten Vermögenswerte auf absehbare Zeit nicht zurückkehren, bleiben für die inländischen Arbeitskräfte und das Kapital nur der Weg des Verzichts auf Einkommen und/oder Beschäftigung sowie der Strukturwandel hin zur Produktion handelbarer (und exportfähiger) Waren und Dienstleistungen. Nur so ist auf Dauer auch der Kapitalmarkt davon zu überzeugen, dass das Land „solvent“ ist, also seinen Schuldendienst langfristig leisten
Weitere Kostenlose Bücher