Vollendet - Der Aufstand (German Edition)
bist.«
Er geht zum Fenster und öffnet die Lamellen der Jalousie so weit, dass einzelne Lichtstreifen der Nachmittagssonne ins Zimmer fallen. Draußen vor dem Fenster kracht eine besonders große Welle gegen die Felsen. »›Das Meer ist ein mächtiger Harmoniker‹«, zitiert er einen Dichter, von dem sie wahrscheinlich noch nie gehört hat. »Wenn du wieder laufen kannst, musst du dir die Aussicht ansehen. Um diese Tageszeit ist es unheimlich schön.«
Sie antwortet nicht. Sie wartet nur darauf, dass er geht, aber das tut er nicht.
»Ich muss wissen, warum du mich hasst«, erklärt er. »Ich habe dir nichts getan. Du kennst mich nicht einmal, trotzdem hasst du mich. Warum?«
»Ich hasse dich nicht«, erwidert Risa. »Es gibt kein ›Du‹, das ich hassen könnte.«
Er stellt sich neben ihr Bett. »Ich bin aber hier, oder etwa nicht?« Er legt seine Hand auf ihre. Sie zieht sie weg.
»Es ist mir egal, wer oder was du bist. Fass mich nicht an.«
Er denkt kurz nach und sagt dann mit großer Ernsthaftigkeit: »Würdest du denn gern mich berühren? Du kannst alle Nähte spüren. Du kannst fühlen, was mich zu dem macht, das ich bin.«
Dieses Angebot würdigt sie nicht einmal einer Antwort. »Glaubst du etwa, die Kids, die umgewandelt wurden, um ein Teil von dir zu werden, wollten das?«
»Wenn sie Zehntopfer waren, schon«, sagt Cam, »und einige von ihnen waren welche. Die anderen konnten es sich nicht aussuchen … genauso wenig, wie ich es mir aussuchen konnte, erschaffen zu werden.«
Bei aller Wut auf die, die Cam geschaffen haben, keimt in Risa der Verdacht auf, dass er vielleicht auch nur ein Opfer ist.
»Warum bist du hier?«, fragt sie ihn.
»Auf diese Frage habe ich jede Menge Antworten«, erwidert Cam stolz. »›Soweit wir zu erkennen vermögen, ist es der einzige Sinn der menschlichen Existenz, ein Licht anzuzünden in der Finsternis des bloßen Seins.‹ C.G. Jung.«
Risa seufzt. »Nein, ich meine, warum bist du hier, hier in diesem Zimmer, und unterhältst dich mit mir? Das Proaktive Bürgerforum hat für seinen Prototypen doch bestimmt Wichtigeres vorgesehen, als seine Zeit mit mir totzuschlagen.«
»›Und da, wo die Herzen weit sind …‹«, erwidert Cam. »Äh … ich meine … ich bin hier zu Hause. Aber ich bin auch hier, weil ich hier sein will.«
Er lächelt sie an, und Risa findet es schrecklich, dass sein Lächeln so aufrichtig wirkt. Sie muss sich immer wieder in Erinnerung rufen, dass es überhaupt nicht sein Lächeln ist. Er besteht nur aus dem Gewebe anderer, und wenn man das alles abschälen würde, bliebe in ihm drin nichts übrig. Er ist nicht mehr als eine grausame Illusion.
»Waren deine Gehirnzellen vorprogrammiert? Ein Kopf voller implantierter Ganglien der Besten und Intelligentesten?«
»Nicht alle«, erwidert Cam leise. »Warum machst du mich dauernd verantwortlich für Dinge, für die ich nichts kann? Ich bin, was ich bin.«
»Die Worte eines wahren Gottes.«
Diesmal zahlt er ihr ihre Überheblichkeit mit gleicher Münze zurück. »Eigentlich hat Gott gesagt: ›Ich werde sein, der ich sein werde‹, so steht es jedenfalls in der Bibel.«
»Erzähl mir nicht, dass man dir die ganze Bibel einprogrammiert hat.«
»In drei Sprachen«, schmunzelt Cam. »Und auch das ist nicht meine Schuld, es ist einfach da.«
Risa findet die Dreistigkeit seiner Schöpfer fast schon wieder amüsant. Cam mit biblischem Wissen vollzustopfen, während sie Gott spielen, ist wohl an Größenwahn nicht zu überbieten.
»Ich kann sie ja auch nicht Wort für Wort ausspucken. Kann nur den einen oder anderen Spruch rauskramen.«
Sie fragt sich unwillkürlich, ob er absichtlich von einem gehobenen zu einem eher umgangssprachlichen Ton gewechselt hat, merkt aber schnell, dass es unbewusst geschehen ist. Wenn die Signale durch die vielen nicht aufeinander abgestimmten Teile seines Gehirns sausen, entstehen wahrscheinlich alle möglichen Effekte.
»Darf ich fragen, warum du deine Meinung geändert hast?«, will Cam wissen. »Warum du der Operation zugestimmt hast?«
Risa sieht weg. »Ich bin müde.« Obwohl das nicht stimmt, dreht sie sich zur Seite. Nicht einmal diese Seitwärtsbewegung im Bett hat sie vor der Operation ohne Weiteres hinbekommen.
Als klar ist, dass sie ihm nicht antworten wird, fragt er: »Darf ich dich wieder besuchen?«
Ohne sich zu ihm umzudrehen, antwortet sie: »Egal, was ich sage, du kommst doch sowieso wieder. Also warum fragst du überhaupt?«
»Na ja«,
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