Vollendet - Der Aufstand (German Edition)
erwidert er, »es wäre schön, deine Erlaubnis zu haben.« Dann geht er aus dem Zimmer.
Sie bleibt noch eine Weile so liegen und versucht, die Gedanken zu verscheuchen, die ihr durch den Kopf schwirren. Schließlich döst sie ein. Es ist die erste Nacht, in der sie von der Lawine träumt.
An dem Tag, an dem Risa ihre ersten Schritte macht – eine Woche nach dem Erwachen, nicht zwei –, ist Roberta geschäftlich unterwegs. Dieser Tag schwemmt all die widersprüchlichen Gefühle in Risa wieder hoch. Sie möchte den Augenblick allein erleben, aber wie immer gesellt sich Cam ungebeten dazu.
»Meilenstein! Das ist ein bedeutungsvoller Augenblick«, erklärt er fröhlich. »Da sollte ein Freund dabei sein.«
Als sie ihn mit einem eisigen Blick straft, rudert er zurück.
»Uuund da keine Freunde da sind, muss ich das eben übernehmen.«
Ein männlicher Pfleger, der aussieht wie ein mit Steroiden vollgepumpter Armeetyp, fasst Risa am Oberarm und hilft ihr, die Beine aus dem Bett zu schieben. Es ist ein unheimliches Gefühl, als sie tatsächlich frei über dem Boden schweben. Sie streckt zittrig die Knie durch, bis sie mit den Zehenspitzen den Fußboden spürt.
»Die hätten einen Teppich hinlegen sollen«, beschwert sich Cam bei Schwester Muskelprotz. »Dann wäre es weicher für sie.«
»Teppiche rutschen«, erwidert er.
Vom Pfleger auf der einen Seite gestützt und von Cam auf der anderen, stellt sich Risa auf die Füße. Der erste Schritt ist am schwersten, so, wie wenn man den Fuß durch zähen Matsch zieht. Aber schon der zweite Schritt gelingt überraschend leicht.
»Gutes Mädchen!«, lobt sie der Pfleger wie ein Kleinkind, das laufen lernt – und in gewissem Sinne ist es ja auch so. Risa geht jeglicher Gleichgewichtssinn ab, und ihre Knie fühlen sich an, als wollten sie jeden Moment nachgeben.
»Weiter so«, ermuntert sie Cam. »Du machst das toll!« Beim fünften Schritt kann sie die Freude, die tief aus ihrem Innern aufsteigt, nicht mehr unterdrücken. Ein Lächeln erhellt ihr Gesicht. Sie gerät außer Atem und kichert vor Freude darüber, dass sie gehen kann.
»Genau so«, lobt Cam. »Du schaffst es! Du bist wieder vollständig, Risa! Genieß es, das ist dein gutes Recht!«
Und obwohl sie das nicht glaubt, kommt sie gegen diesen Moment nicht an. »Das Fenster!«, sagt sie. »Ich möchte aus dem Fenster sehen.«
Während sie einen leichten Bogen zum Fenster beschreibt, lässt der Pfleger sie vorsichtig los. Nun stützt sich Risa nur noch mit einer Hand auf die Schulter von Cam, der den Arm um ihre Taille gelegt hat. Normalerweise würde sie sich über diese Nähe ärgern, aber die Abneigung wird überdeckt von der gewaltigen Flut von Sinneseindrücken, die sie mit Füßen, Knöcheln, Schienbeinen, Schenkeln verspürt – Teile ihres Körpers, die noch vor wenigen Tagen völlig taub waren.
45.
Cam
Cam fühlt sich wie im siebten Himmel. Sie hält sich an ihm fest. Sie verlässt sich auf ihn. Er ist überzeugt, dass in diesem Moment alle Schranken fallen. Er ist überzeugt, dass sie sich zu ihm umdrehen und ihn küssen wird, noch bevor sie am Fenster sind.
Sie stützt sich an seinem Hals ab. Ihre Finger drücken auf die Naht dort, aber es ist ein gutes Gefühl. Er stellt sich vor, dass sie alle seine Nähte mit ihrem Körper umschließt, bis es wehtut. Kein Schmerz könnte schöner sein.
Jetzt sind sie am Fenster. Kein Kuss, aber sie hat auch nicht losgelassen. Das kann sie nicht, weil sie sonst hinfallen würde, aber Cam redet sich ein, dass sie sich auch so an ihm festhalten würde.
Das Meer ist an diesem Morgen aufgewühlt. Drei Meter hohe Wellen brechen sich an den Felsen und die Gischt spritzt steil empor. In der Ferne ist eine Insel zu sehen.
»Mir hat noch niemand gesagt, wo wir hier sind.«
»Molokai«, sagt Cam. »Hawaii. Die Insel war früher eine Leprakolonie.«
»Und jetzt gehört sie Roberta?«
Aus der Art, wie Risa den Namen betont, hört Cam unverhüllte Bitterkeit heraus. »Sie gehört dem Proaktiven Bürgerforum, zumindest die halbe Insel. Das Haus hier war einst der Sommersitz eines reichen Typen und jetzt ist es ein medizinisches Forschungszentrum. Roberta ist die Forschungsleiterin.«
»Bist du ihr einziges Projekt?«
Über diese Frage hat Cam noch nie nachgedacht. Er ist bislang davon ausgegangen, dass er der Mittelpunkt von Robertas Universum ist. »Du magst sie nicht, oder?«
»Wer, ich? Nein, ich liebe sie über alles. Bösartige, intrigante Zimtzicken mag ich
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