Vollendet - Der Aufstand (German Edition)
aber an seinem eigenen Blut.
Lev weiß nicht, was er tun soll, doch wenn er den Kopf nicht bald freibekommt und etwas unternimmt, wird auch sein Bruder sterben.
»Ist alles in Ordnung, Marcus, alles in Ordnung«, beteuert Lev, obwohl das nicht stimmt.
Mit aller Kraft hebt er den Balken an. Marcus schreit vor Schmerz. Lev stützt den Balken mit der Schulter ab, schiebt seinen Bruder mit dem Fuß zur Seite und lässt den Balken fallen. Er kracht in die verbliebenen Reste des Glastisches. Lev fasst in Marcus’ Hosentasche, zieht sein blutüberströmtes Handy heraus, betet darum, dass es noch funktioniert, und wählt den Notruf.
Lev, der von oben bis unten voller Asche ist und dem immer noch die Ohren klingeln, weigert sich, einen zweiten Notarztwagen zu besteigen, sondern besteht darauf, bei Marcus mitzufahren. Er führt sich dermaßen auf, dass man ihm seinen Willen lässt.
Sein linkes Ohr zuckt bei jedem Geräusch, als hätte sich eine Motte darin verirrt. Die Umgebung nimmt er nur verschwommen wahr, und auch die Zeit ist offenbar völlig aus den Fugen geraten. Er hat das Gefühl, dass Marcus und er in eine andere Dimension geschleudert worden sind, in der Ursache und Wirkung durcheinanderwirbeln. Lev weiß nicht, ob er hier ist, weil das Mädchen in die Luft geflogen ist, oder ob das Mädchen in die Luft geflogen ist, weil er hier ist.
Die Sanitäter geben Marcus Spritzen, während das Auto mit hoher Geschwindigkeit ins nächste Krankenhaus rast.
»L-l-lev.« Marcus hat Mühe, die Augen aufzuhalten. Lev nimmt seine Hand, die vom trocknenden Blut ganz klebrig und braun ist.
»Ich bin hier.«
»Halte ihn wach«, sagt ein Sanitäter. »Wir müssen verhindern, dass er einen septischen Schock erleidet.«
»H-hör mir zu.« Es kostet Marcus sämtliche Kraft, die Worte auszusprechen. »Hör mir zu.«
»Ich höre.«
»Die wollen mir bestimmt … Teile verpassen. Teile von Wandlern.«
Lev verzieht das Gesicht und wappnet sich innerlich. Er weiß schon, was Marcus sagen wird. Er würde lieber sterben, als Organe von Wandlern zu bekommen.
»Die … die wollen mir Nieren einpflanzen … Leber … oder so … Teile von Wandlern …«
»Ich weiß, Marcus, ich weiß.«
Da öffnet sein Bruder die halb geschlossenen Augen, sieht Lev direkt an und drückt seine Hand noch fester.
»Lass sie!« , bittet er.
»Was?«
»Erlaube es ihnen, Lev. Ich will nicht sterben. Bitte, Lev«, fleht Marcus. »Lass es zu, dass sie mir die Wandlerteile geben …«
Lev drückt die Hand seines Bruders. »Okay, Marcus. Okay.« Und er weint, dankbar, dass sein Bruder sich nicht zum Tode verurteilt hat. Gleichzeitig hasst er sich für seine Gefühle.
Lev wird sorgfältig untersucht. Man erklärt ihm, dass er ein kaputtes Trommelfell, mehrere Platzwunden, Prellungen und wahrscheinlich eine Gehirnerschütterung hat. Sie verbinden die Wunden, geben ihm Antibiotika und behalten ihn zur Beobachtung da.
Von Marcus, der unmittelbar nach ihrer Ankunft in den Operationssaal geschoben wurde, hört er nichts. Abgesehen von der Krankenschwester, die ihm stündlich Puls und Blutdruck misst, besucht nur die Polizei Lev, die ihn mit Fragen, Fragen und noch mehr Fragen bombardiert.
»Kanntest du das Mädchen, das den Anschlag verübt hat?«
»Nein.«
»Kanntest du sie von deiner Klatscher-Ausbildung?«
»Nein.«
»Gehörte sie zu deiner Klatscher-Zelle?«
»Ich habe Ihnen doch gesagt, dass ich sie nicht kannte!«
Und natürlich blieb auch die dümmste Frage von allen nicht aus: »Kannst du dir vorstellen, warum man es auf dich abgesehen hat?«
»Liegt das nicht auf der Hand? Sie hat mir gesagt, es sei die Rache dafür, dass ich nicht geklatscht habe – die zuständigen Leute waren unzufrieden mit mir.«
»Und wer sind die zuständigen Leute?«
»Weiß ich doch nicht. Ich habe nur ein paar Klatscher kennengelernt, die mittlerweile tot sind, weil sie sich in die Luft gesprengt haben. Ich bin nie einem Rädelsführer begegnet!«
Unverrichteter Dinge zieht die Polizei wieder ab. Dann taucht das FBI auf und stellt ihm noch einmal dieselben Fragen. Und nach wie vor sagt ihm niemand, wie es um Marcus steht.
Endlich, am späten Nachmittag, erbarmt sich die Krankenschwester bei einer der Routineuntersuchungen.
»Ich darf dir eigentlich nichts über deinen Bruder sagen, aber ich mache es trotzdem.« Sie setzt sich auf einen Stuhl neben seinem Bett und spricht leise weiter. »Er hatte schwere innere Verletzungen. Aber zum Glück haben wir eine der
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