Vollendet (German Edition)
anderen Ort in einer anderen Zeit geschehen wäre. Er hält Risa noch zehn Sekunden, zwanzig Sekunden, dreißig Sekunden fest. Dann schlüpft sie hinaus, und er kehrt in den Speisesaal zurück. Nach wenigen Minuten hört er sie spielen, hört ihre Musik, die Happy Jack mit dem fröhlich-pulsierenden Soundtrack der Verdammten erfüllt.
59. Roland
An diesem Morgen holen sie Roland ab, gleich nach dem Frühstück. Ein Ernte-Betreuer und zwei Wachleute treiben ihn im Gang des Schlafsaals in die Enge und sondern ihn von den anderen ab.
»Sie haben den Falschen«, sagt Roland verzweifelt. »Ich bin nicht der Flüchtling aus Akron. Connor ist der, den Sie suchen.«
»Nein, tut mir leid«, sagt der Betreuer.
»Aber … aber ich bin erst seit ein paar Tagen hier …« Er ahnt, warum er dran ist – weil er den Typ mit dem Volleyball getroffen hat, das muss es sein. Oder wegen seiner Prügelei mit Connor. Connor hat ihn verpfiffen! War doch klar, dass er ihn verpfeifen würde!
»Es ist deine Blutgruppe«, sagt der Betreuer. »AB negativ – die ist selten und sehr begehrt.« Er lächelt. »Betrachte es mal von der Seite: Du bist mehr wert als jeder andere auf deiner Station.«
»Du Glücklicher«, ergänzt einer der Wachleute und packt Roland am Arm.
»Falls es dir ein Trost ist«, sagt der Betreuer, »dein Freund Connor ist heute Nachmittag dran.«
Rolands Beine sind schwach, als sie ihn hinaus ins Tageslicht führen. Vor ihm erstreckt sich der rote Teppich in der Farbe getrockneten Blutes. Wenn Kids an diesem schrecklichen Plattenweg vorbeikommen, springen sie darüber hinweg, als brächte es Unglück, ihn zu berühren. Nun aber lassen die Wachleute nicht zu, dass Roland ihn verlässt.
»Ich will einen Priester«, sagt Roland. »Man bekommt doch einen Priester, oder nicht? Ich will einen Priester!«
»Priester geben die Sterbesakramente«, erklärt der Betreuer und legt ihm sanft die Hand auf die Schulter. »Die sind für Leute, die sterben. Du stirbst nicht – du wirst leben, nur anders.«
»Ich will trotzdem einen Priester.«
»Na gut, ich will sehen, was ich tun kann.«
Die Band auf dem Dach des Schlachthauses hat ihr morgendliches Programm begonnen. Sie spielen ein bekanntes Tanzlied, wie um den Trauergesang, der in seinem Kopf hallt, zu verhöhnen. Risa ist in der Band, das weiß Roland. Sie spielt da oben Keyboard. Er weiß auch, wie sehr sie ihn hasst, und trotzdem winkt er ihr zu, um ihre Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Selbst der Gruß von jemandem, der ihn hasst, wäre besser, als wenn nur Fremde sein Ende bezeugen.
Doch ihr Blick wandert nicht zum roten Teppich. Sie sieht ihn nicht. Vielleicht erzählt ihr später jemand, dass er heute um-gewandelt worden ist. Er fragt sich, wie sie es aufnehmen wird.
Sie sind am Ende des roten Teppichs angekommen. Fünf Steinstufen führen zu den Türen des Schlachthauses. Roland bleibt davor stehen. Die Wachleute ziehen ihn weiter, doch er schüttelt sie ab.
»Ich brauche noch Zeit. Einen Tag. Das ist alles. Einen Tag noch. Morgen bin ich bereit. Ich verspreche es!«
Immer noch spielt über ihm die Band. Er will schreien, aber hier, direkt vor dem Schlachthaus, würde die Musik seine Schreie übertönen. Der Ernte-Betreuer gibt den Wachleuten ein Zeichen. Sie packen Roland fester unter den Armen und schieben ihn die fünf Stufen hinauf. Sekunden später ist er durch die Türen hindurch, die sich hinter ihm schließen und die Welt draußen lassen. Er hört nicht einmal mehr die Band. Das Schlachthaus ist schalldicht. Das hätte er sich auch denken können.
60. Ernte
Niemand weiß, wie es geschieht. Niemand weiß, wie es gemacht wird. Die Ernte ist ein geheimes medizinisches Ritual, das in jeder Ernteklinik der Nation in den eigenen vier Wänden bleibt. Insofern ist es dem Tod gar nicht so unähnlich, von dem auch niemand weiß, welche Geheimnisse sich hinter seinen Türen verbergen.
Was man für die Umwandlung eines ungewollten Jugendlichen braucht? Zwölf Chirurgen, die jeweils in Zweierteams zum Einsatz kommen, wenn ihr Spezialgebiet gefordert ist, neun chirurgische Assistenten, vier Krankenschwestern und drei Stunden Zeit.
61. Roland
Roland ist seit fünfzehn Minuten dran.
Das medizinische Personal, das um ihn herumwuselt, trägt Kittel in der Farbe eines Smileys.
Arme und Beine wurden an den Operationstisch gebunden. Die Fesseln sind stabil, aber gepolstert, damit sich Roland nicht verletzt, falls er sich wehrt.
Eine Krankenschwester tupft
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