Vollendet (German Edition)
ihm den Schweiß von der Stirn. »Entspann dich. Ich bin für dich da.«
Er spürt einen heftigen Einstich auf der rechten und dann auf der linken Seite des Halses.
»Was war das?«
»Das war der einzige Schmerz, den du heute spüren wirst«, sagt die Krankenschwester.
»Dann war es das jetzt? Betäuben Sie mich?«
Ihr Mund ist zwar unter der OP-Maske nicht zu sehen, doch ihre Augen lächeln.
»Keineswegs«, sagt die Krankenschwester. »Das Gesetz schreibt vor, dass du während der gesamten Prozedur bei Bewusstsein bleibst.« Sie nimmt seine Hand. »Du hast das Recht zu wissen, was genau mit dir geschieht, Schritt für Schritt.«
»Und wenn ich es gar nicht wissen will?«
»Du willst«, sagt einer der chirurgischen Assistenten, der Rolands Beine mit einer braunen Flüssigkeit desinfiziert. »Das wollen alle.«
»Gerade wurden dir links und rechts Katheter in die Halsschlagader gelegt«, sagt die Krankenschwester. »Dein Blut wird jetzt durch eine synthetische sauerstoffreiche Lösung ersetzt.«
»Das Blut geht an eine Blutbank«, sagt der Assistent zu seinen Füßen. »Bis zum letzten Tropfen wird alles verwendet. Du wirst Leben retten!«
»Die Sauerstofflösung enthält auch ein Narkosemittel, das die Schmerzrezeptoren ausschaltet.« Die Krankenschwester tätschelt ihm die Hand. »Du wirst bei vollem Bewusstsein sein, aber du wirst überhaupt nichts spüren.«
Roland merkt bereits, dass seine Beine taub werden. Er schluckt. »Ich hasse das. Ich hasse Sie. Ich hasse Sie alle.«
»Das verstehe ich.«
Achtundzwanzig Minuten.
Die ersten Chirurgen sind eingetroffen.
»Beachte sie gar nicht«, sagt die Krankenschwester. »Sprich mit mir.«
»Worüber sollen wir denn reden?«
»Worüber du willst.«
Jemand lässt ein Instrument fallen. Klappernd schlägt es auf dem Tisch auf und fällt dann zu Boden. Roland zuckt zusammen. Die Krankenschwester drückt ihm die Hand.
»Du spürst jetzt vielleicht ein leichtes Ziehen in den Fußgelenken«, sagt einer der Chirurgen am Fuß des Tisches. »Kein Grund zur Beunruhigung.«
Fünfundvierzig Minuten.
So viele Chirurgen, so viel Betriebsamkeit. Roland kann sich nicht erinnern, schon einmal dermaßen im Mittelpunkt gestanden zu haben. Er möchte nachsehen, was sie tun, aber die Krankenschwester lenkt ihn ab. Sie hat seine Akte gelesen und weiß alles über ihn. Das Gute und das Schlechte. Die Dinge, über die er nie spricht. Die Dinge, über die er ständig spricht.
»Es ist schrecklich, was dein Stiefvater getan hat.«
»Ich habe nur meine Mutter beschützt.«
»Skalpell«, sagt ein Chirurg.
»Sie hätte dankbar sein müssen.«
»Sie hat mich umwandeln lassen.«
»Es war bestimmt nicht einfach für sie.«
»Gut, klemmt es ab.«
Eine Stunde fünfzehn Minuten.
Chirurgen gehen, Chirurgen kommen. Sie wenden sich seinem Unterleib zu. Roland blickt in Richtung seiner Zehen, sieht aber nur einen chirurgischen Assistenten, der die untere Hälfte des Tisches sauber macht.
»Gestern habe ich fast jemanden umgebracht.«
»Das spielt jetzt keine Rolle mehr.«
»Ich wollte es tun, aber dann habe ich Angst bekommen. Ich weiß nicht, warum, aber ich hatte einfach Angst.«
»Denk nicht mehr darüber nach.« Die Krankenschwester hat zuvor seine Hand gehalten. Jetzt tut sie das nicht mehr.
»Starke Bauchmuskulatur«, sagt ein Arzt. »Machst du Krafttraining?«
Klapperndes Metall. Die untere Hälfte des Tisches wird ausgehängt und weggeschoben. Er muss daran denken, wie seine Mom ihn mit zwölf nach Las Vegas mitnahm. Sie setzte ihn bei einer Zaubervorstellung ab, damit sie an den Automaten spielen konnte. Der Zauberer sägte eine Frau in zwei Hälften. Die Zehen bewegten sich, das Gesicht lächelte noch. Das Publikum belohnte ihn mit donnerndem Applaus.
Roland hat ein unangenehmes Gefühl im Bauch. Unwohlsein, ein Kribbeln, aber kein Schmerz. Die Chirurgen heben etwas heraus. Er will nicht hinsehen, aber er kann nicht anders. Es ist kein Blut da, sondern nur die sauerstoffreiche Lösung in fluoreszierendem Grün, wie Frostschutzmittel.
»Ich habe Angst«, sagt er.
»Ich weiß«, sagt die Krankenschwester.
»Ich will, dass Sie alle in die Hölle kommen.«
»Das ist nur natürlich.«
Ein Team verlässt den Raum, ein anderes kommt herein. Es interessiert sich für seine Brust.
Eine Stunde fünfundvierzig Minuten.
»Ich fürchte, wir können jetzt nicht mehr weiterreden.«
»Gehen Sie nicht weg.«
»Ich werde hier sein, aber wir werden nicht mehr miteinander
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